© Inge Dethlefs / MassivKreativ

art meets science II: Riffe stricken, Humboldt und Goethe loben und Paläokunst

Kunst und Natur, Kultur- und Geisteswissenschaften haben viele Jahrzehnte ein getrenntes Dasein gefristet. Jede Disziplin pflegte und vertiefte ihr Spezialwissen für sich allein. Das war nicht immer so, wie u. a. Humboldt, Goethe und wissbegierige Monarchen zeigen.

In den Wunderkammern der Monarchen und Fürsten lagen früher Exponate aus Kunst und Naturwissenschaft direkt nebeneinander. Im großartigen Kunsthistorischen Museum Wien  und auch im neuen Weltmuseum Wien kann man das noch heute sehen: Trophäen von Archäologen und Biologen von Expeditionen, bei denen früher stets auch Künstler mitreisten, um die exotischen Neuentdeckungen in Bildern festzuhalten. Der Universalgelehrte Alexander von Humboldt z. B. beherrschte das naturwissenschaftliche Forschen ebenso präzise wie das kunstvolle Zeichnen. Etwa 1500 Skizzen und kolorierte Blätter sind von ihm überliefert und zeigen Details exotischer Pflanzen und Tiere (vgl. Lubrich, O.: Alexander von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk. Berlin 2014).

 © Verlag Lambert Schneider

Bildhungrig

Erst seit jüngerer Zeit führen Kunst, Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften ein getrenntes Dasein. Bedauerlich, dass jede Disziplin ihr Spezialwissen für sich allein pflegt und vertieft. Doch langsam kommen sich die Forschungs- und Lehrgebiete wieder näher – wegen unseres unstillbaren Hungers nach Sicht- und Greifbarem, der in digitalen Zeitalter noch mehr wächst. Je abstrakter die Naturwissenschaft umso bildbedürftiger wird sie.

In der Paläo-Kunst bzw. Paläo-Art gehen Kunst und Wissenschaft eine fruchtbare Synthese ein. Künstler recherchieren in einschlägigen Fachmagazinen, um auf dem Laufenden zu bleiben und neue Erkenntnisse in ihren Zeichnungen aufzugreifen. Gezielte Fragen treiben sie an: Kann ein Tier mit dieser Körperform jagen? Sind die Gliedmaßen eher an eine Fortbewegung im Sand oder im Sumpf angepasst? Federn oder Fell? Wenn Fragen nicht beantwortet werden können, helfen nur Mut und Kreativität. Paläokünstler Frederik Spindler sagt: „Ich habe mir das Wissen nach und nach angelesen und Kongresse besucht.“ Auf der Online-Plattform Deviantart tauscht er sich mit Wissenschaftlern und anderen Künstlern aus.

 © Inge Dethlefs / MassivKreativ

Visualisierung von Erkenntnissen

Damit Wissenschaft und Kunst zu Dreamteams werden, wurde an der Universität Zürich der Studiengang Bachelor Scientific Visualization ins Leben gerufen, um wissenschaftliche Sachverhalte bildlich darzustellen. Die Fachhochschule Potsdam hat im Fachbereich Design die Studien­gänge Interface-, Kommunikations- und Produktdesign verzahnt. Als Designer hat Roman Grasy den Brückenschlag zur Biologie und Medizin gesucht. Seine Masterarbeit The Organ Generator: Computer Aided Biology Design beschäftigt sich mit 3D Bioprinting synthetischer Gefäßsysteme. Zunächst werden abstrakte Gefäßstrukturen nach biologischen Regelwerken modelliert, um sie dann mit lebendigen Zellen zu drucken. So können z.B. Medikamentenwirkstoffe an biologischen Simulationsmodellen getestet werden, was Tierversuche überflüssig macht.

Vielfältige Kompetenzen verbinden

Hochschulen und Universitäten brauchen verschiedene Partner: kompetente Wissenschaftsjournalisten einerseits, die der breiten Öffentlichkeit neue Erkenntnisse vermitteln und Datenjournalisten, Grafik-, Medien- und Kommunikationsdesigner andererseits, die Abstraktes mit Modellen, Infografiken und Erklärtrickfilmen verständlich visualisieren, zum Beispiel zum komplexen Thema Nachhaltigkeit. Für eine direkte Auftragserteilung an freiberufliche Kreative fehlt den Universitären allerdings oft das Geld. Bürgern bleiben daher oft wichtige Erkenntnisse vorenthalten, die mit viel Spezialwissen erstellt und meist auch mit öffentlichen Mitteln finanziert wurden. Dabei wird es in unserer alternden Gesellschaft zunehmend wichtig, neue Forschungsergebnisse an den mündigen Patienten zu bringen, nicht zuletzt über neue Medien, interdisziplinäre und kreative Methoden.

 © zukunft.leben.nachhaltigkeit, Silberfuchs-Verlag

Wissen inszenieren

Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich auch auf der Bühne im Rahmen eines Science Slam inszenieren. Das sind mehrere kurze Vorträge hintereinander mit unterhaltsamen Zusätzen, wie z. B.  Animation oder Comic-Zeichnung, Experiment, Tanz oder Gesang. Hauptsache verständlich, kurzweilig, humorvoll und aus anderer Perspektive präsentiert. Originelle Fragen transportieren ein Thema mühelos von einem Bereich in einen anderen: Wie schmecken Klänge? Haben Bakterien eine Lieblingsfarbe? Was fühlt ein Blatt? Wer wäre ich vor 100 Jahren gewesen und wer würde ich in 100 Jahren sein? Die Themen stammen aus allen Bereichen: Natur- und Geisteswissenschaft, Praxis und Theorie.

Kreative Kollaboration

Der Wissenszuwachs hat eine enorme Beschleunigung erfahren. Die Spezialgebiete haben sich stetig differenziert. Universalgelehrte wie Leonardo da Vinci, Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Wolfgang von Goethe oder Alexander von Humboldt wird es kaum mehr geben. Was umso mehr dafür spricht, dass die Disziplinen den direkten Austausch suchen, um  Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Inspiration und Horizonterweiterung geben Erfindergeist und Motivation einen enormen Schub. Die Kunsthistorikerin Andrea Wulf beschreibt in ihrem Buch Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur (S. 47-63), dass Goethe die produktivsten Schreibphasen an seinem Faust unmittelbar nach Treffen mit Alexander von Humboldt gehabt habe. Die packenden Schilderungen seiner Forschungsreisen ließen Goethe über Erkenntnisstreben, Macht und deren Folgen reflektieren. Das Ergebnis: die literarische Innovation „Doktor Faust“.

 © Randomhouse/Bertelsmann

Spillover im Museum

An alte Seilschaften zwischen Kunst, Sammeln und Forschen knüpft das Naturkundemuseum in Berlin an. Mit künstlerischen Interventionen setzen sich Kultur- und Kreativakteure in einem vierjährigen Modellprojekt und in verschiedenen Sparten mit Naturthemen und Exponaten in den Räumen des Museums auseinander. Sie intervenieren, greifen ein, spiegeln ihre Perspektiven mit Klangkunst und Musik, Poesie und Literatur, Malerei und Installation. Das schärft die Wahrnehmung und das Empfinden der Besucher, Naturwissenschaft mit allen Sinnen zu erfassen, wie der Künstler Ólafur Elíasson es 2016 bei der Verleihung des Zukunftspreises formuliert: „Wissenschaft bedeutet auch, mit dem Herz und nicht nur mit dem Verstand zu forschen.“

Handarbeit und Mathematik

Künstlerische Ästhetik, Mathematik und Naturwissenschaften verbinden die australischen Zwillingsschwestern Christine und Margaret Wertheim in ihrem Institute for Figuring in Los Angeles. 2012 initiierten sie ein partizipatives, grenz-, generationen- und geschlechterübergreifendes Handarbeitsprojekt: Männer und Frauen, Kinder und Senioren, über 700 Mitwirkende aus Deutschland, Dänemark, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz häkelten gemeinsam ein wollenes Korallenriff – The Föhr Reef – eine Aktion des Museums „Kunst der Westküste“ in Alkersum auf der Insel Föhr. Neben Fingerfertigkeit erhielten die Akteure über die Vorlagen der Handarbeitstechnik Einblick in mathematische Muster sowie thematisch in meeresbiologische Aspekte. Weltweit sind bereits über 20 gehäkelte Korallenriffe entstanden.

  © Föhr Reef: Institute for Figuring, Alyssa Gorelick

Kunst als Botschafter

2014 zeigte das internationale State Festival in Berlin, dass Kunst und Musik helfen können, Denk- und Forschungsergebnisse wirksam nach außen zu kommunizieren. Praktiziert wurde das in Gesprächsforen, interaktiven Workshops, in Kurzfilmen, Performances von Künstlern und Live-Experimente von Wissenschaftlern. Das Festivalthema „Zeit“ bildete den Rahmen für das Kernthema: der kreative Zusammenprall beider Welten Wissenschaft und Kunst. Und die Frage: Welche ästhetischen Qualitäten geben Kunst und Musik Substanz und befähigen sie, Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen zu finden? Wird die wachsende Komplexität der Welt und des Denkens greifbarer, wenn man Denkweisen und Weltsichten von Wissenschaft und Kunst zusammenbringt. John Gorman, Chef der Science Gallery in Dublin sehnt eine „dritte Kultur“ herbei. Er nennt sie arts science und hofft, dass sie zu einer weltweiten Bewegung wird.

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