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Citizen Science, Amateurwissenschaft und Immaterielles Kulturerbe

Mücken sammeln (Mückenatlas), Sterne klassifizieren (Galaxy Zoo), Schmetterlinge zählen (Tagfalter-Monitoring), Eiweiße falten (Fold.it): Bürger engagieren sich seit langem mit großer Leidenschaft in der Laienforschung, kurz Bürger- oder Amateurwissenschaft genannt bzw. Citizen Science . Bisher dominieren naturwissenschaftliche Themen. Das muss sich dringend ändern! Die Kultur- und Geisteswissenschaften bieten spannende Experimentierfelder, vor allem das immaterielle Kulturerbe

Chancen und Risiken von Bürgerforschung

Bürgerforschung liegt im Trend. Bildungs- und Forschungsexperten loben Citizen Science als „große Chance für die Wissenschaft und Gewinn für viele freiwillig Engagierte“. Fakt ist: Unzählige Bürgerforscher unterstützen seit Jahren die akademische Wissenschaft mit zeitintensiven Beobachtungen und Untersuchungen. Kritiker mahnen, die ehrenamtlichen Laien dürften nicht zu billigen Arbeitskräften verkommen, es muss mehr Wertschätzung und Augenhöhe geben (siehe Buchtipps unten Peter Finke).

Citizen Science versus Amateurwissenschaft

Dass im offiziellen Sprachgebrauch von Politik und staatlichen Institutionen der englischsprachige Begriff „Citizen Science“ verwendet wird, statt schlicht von Amateurwissenschaft zu sprechen, macht bereits deutlich, dass sich die Amateurforscher den Modalitäten der Profiwissenschaft anpassen sollen und nicht umgekehrt. Dies gilt vor allem dann, wenn es um die Beantragung von Geldern geht, die ein aufwändiges akademisiertes Verfahren voraussetzt. Lange gab es kaum Mittel für ehrenamtliche Projekte der Amateurforscher. Im Herbst 2016 startete nun das BMBF – das Bundesministerium für Bildung und Forschung – eine Ausschreibung zur Unterstützung von Citizen Science mit einem Gesamtbudget von 4 Millionen Euro. Das Interesse war enorm, 313 Projekte wurden eingereicht. 13 Projekte erhielten eine Förderzusage, leider ausschließlich naturwissenschaftliche Projekte, die sich im „Verbundverfahren“ bewarben (was das genau bedeutet, siehe im übernächsten Absatz), u. a. aus dem Bereich Gesundheitsforschung: siehe BMBF-Pressemitteilung. Auch auf der BMBF-geförderten Plattform Bürger schaffen Wissen sind kultur- und geisteswissenschaftliche Projekte noch stark unterrepräsentiert. Jenseits von Natur und Technik brauchen die vielen engagierten Akteure und Trägergruppen des immaterielles Kulturerbe dringend mehr Anerkennung und Wertschätzung aus Politik und Profiwissenschaft.

Ignorierte Wirtschaftswissenschaften 

Was im BMBF-Programm für Citizen Science ebenso fehlt, sind übrigens wirtschaftswissenschaftliche Projekte, die anhand von Praxisbeispielen alternativen Wirtschaftsmodelle, -kreisläufe (z. B. Talente-Tauschkreis Vorarlberg) und Gemeinwohlökonomie wissenschaftlich untersuchen. Die Gründe liegen auf der Hand: Alle großen politischen Parteien stützen ihre Politik unreflektiert auf Wirtschaftswachstum. Nur die GRÜNEN fordern in ihrem Parteiprogramm zur Bundestagswahl 2017 (S. 44) „eine andere Art des Wirtschafts“. Auch Universitäten sträuben sich, alternative Wirtschaftsmodelle zu vermitteln. Frustrierte Studenten und sensible Wissenschaftler reagieren darauf mit eigenen Netzwerken und neuen Lernplattformen, z. B. exploring economics, postautistische bzw. plurale Ökonomik, Wachstumswende, initiiert von VÖÖ – der Vereinigung für ökologische Ökonomie. Um alternative Wirtschaftstheorien zu vermitteln, werden sogar neue Hochschulen gegründet, wie z. B. Cusanus.    

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Förderhürden für Geisteswissenschaften

Sind die Hürden für Bürgerwissenschaftler zu hoch, insbesondere aus den Bereichen Kultur und Geschichte? Erschwerend ist, dass das BMBF nur Verbundvorhaben mit mindestens fünf beteiligten, meist institutionell gebundenen Kooperationspartnern fördert. Die Laienforscher müssen sich zwingend Partner in der klassischen Wissenschaft suchen, denn nur Universitäten und Hochschulen dürfen einen Förderantrag stellen. Der Wissenschaftstheoretiker und Citizen-Science-Experte Peter Finke sieht darin einen „Elite-Basis-Konflikt“, die Hochschulen oben, die Laienforscher unten. Dabei ist Augenhöhe beim Profi-Laien-Mix Voraussetzung für das Gelingen von Citizen Science. Denn: Amateurwissenschaftler stellen andere Fragen, sie forschen an anderen Themen als Profiwissenschaftler, tragen Daten und Fakten mit viel Zeit und Herzblut zusammen. Das ist wichtig und gut so! Profiwissenschaftler müssen mitbekommen, was abseits ihrer Fakultäten und Institute „draußen“ im Alltag passiert.

Dass Amateurwissenschaftler auch mit Profiforschern zusammenarbeiten, ist im Sinne unterschiedlicher Fachkompetenzen sinnvoll und wünschenswert. Haben sich Amateure über Jahrzehnte Spezialwissen angeeignet, verfügen Forscher an den Universitäten über technisches Wissen und Werkzeuge, mit denen sie Daten verarbeiten, auswerten und visualisieren können. Doch Verbundvorhaben bergen von vornherein die Gefahr, dass es die Universitäten und Hochschulen sind, die die Forschungsthemen setzen, und nicht die Laienforscher, dass die Profiwissenschaftler bei Ausschreibungen auf die Laienforscher zugehen, um an Fördertöpfe zu gelangen und nicht umgekehrt. So besteht die Gefahr, dass die Fragen der Bürger auf der Strecke bleiben. Die vom BMBF geschaffenen Fördervoraussetzungen machen Citizen Science bedauerlicherweise zum verlängerten Arm der klassischen Wissenschaft – etwa für zeitintensive Untersuchungen, die Universitäten und Hochschulen aus Budgetgründen nicht leisten können. 

Fokus auf Naturwissenschaft und Technik

Ein Blick auf die Jury der BMBF-Ausschreibung legt die Vermutung nahe, dass nun auch das Thema Citizen Science von wirtschaftlichen Interessen im Geiste des homo oeconomicus okkupiert wird. Bis auf eine Vertreterin aus der Sozialforschung sind alle anderen Mitglieder der Jury aus dem Umfeld von Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft (VW-Stiftung). Insofern wundert es nicht, dass die eingereichten geistes- und kulturhistorischen Projekte nicht die Gunst der Entscheider erringen konnten. Lediglich zwei sozialwissenschaftliche Projekte erhielten den Zuschlag (Gutes Leben auf dem Land und im Stadtquartier), ansonsten dominieren Natur- und Gesundheitsforschung. Lobenswert ist der interdisziplinäre Ansatz des Naturkundemuseums Berlin, die Nachtigall nicht nur in biologischem Zusammenhang zu erforschen, sondern deren Einfluss auf Musik und Literatur zu untersuchen. Allerdings knüpft die Fragestellung an ein anderes Förderprojekt an, das von der Kulturstiftung des Bundes als vierjährige Modellprojekt Kunst/Natur (2015-2019) im Naturkundemuseum initiiert wurde. KünstlerInnen haben in Auseinandersetzung mit den Natur-Objekten des Museums neue (Kunst-)Werke entwickelt. Eines der interdisziplinären Fokusthemen war 2018/2019 die Nachtigall.

Amateurwissenschaft zu kulturell-historischen Themen

An Aktivitäten von Amateurforschern im geisteswissenschaftlichen Umfeld mangelt es grundsätzlich nicht in Deutschland. In GeschichtswerkstättenWissenschaftsläden, in Vereinen der Denkmalpflege und -Erforschung, in kulturellen Vereinen und Trägergruppen des Immateriellen Kulturerbes (UNESCO) sorgen Amateurforscher für die Aufarbeitung von identitätsstiftendem Wissen und dessen Weitergabe an die nächste Generation. Was Bürgerforscher mit ihrem privaten, intrinsisch motivierten Interesse bewirken können, zeigen Beispiele in der Ahnen- und Namensforschung, in der Hobbyarchäologie (Josef Gens und Bergische Historiker) in Energie-Genossenschaften (Schönau) und in weiteren Spezialgebieten, wie die Glockenkunde und Matthias Claudius

Amateurforscher als Gesellschaftsgestalter

Das Engagement der kreativen Amateurforscher hat eine enorme gesellschaftsgestaltende Kraft. Insbesondere in ländlichen Regionen sorgen deren Aktivitäten für mehr fundiertes Wissen über und eine stärkere Bindung der Bevölkerung an ihre Region. Wenn wir Menschen uns mit unserer Kultur und Geschichte befassen, entwickeln wir folgerichtig auch ein Bewusstsein für unsere unmittelbare Umgebung. Es entsteht eine größere Bereitschaft für eine Kultur des Bleibens. Das Engagement vor Ort vermindert den Trend der Abwanderung insbesondere der jüngeren Generation in Großstädte bzw. sorgt in jüngster Zeit für eine Kehrtwende und die Rückkehr junger Erwachsener in die Heimat. Vielleicht muss die Amateurwissenschaft frei und unabhängig bleiben, um sich ihre Kraft zu erhalten? Aus gutem Grund nannte sie der Schweizer Journalist Alex Reichmuth eine „direkte Demokratie des Geistes“. (Zürcher Weltwoche)

Jugendliche als Laienforscher

Schon Schüler und Jugendliche befassen sich mit ihrer Herkunft, ihrer Umgebung und ihrer Geschichte. Anerkennung für ihr Engagement erhalten Sie bei Wettbewerben. Andere großartige Projekte kämpfen ständig ums Überleben, hangeln sich von einer Projektförderung zur nächsten. Das Hamburger Projekt GESCHICHTOMAT will die Vielfalt jüdischer Geschichte und Kultur in der Hansestadt sichtbar machen. Jugendliche begeben sich in ihrem Stadtteil auf Spurensuche, recherchieren historische Personen, Orte und Ereignisse. Unter fachlicher und medienpädagogischer Begleitung führen sie Interviews mit Experten und Zeitzeugen, besuchen Archive und Museen, filmen, schneiden, fotografieren und schreiben. Alle Beiträge werden auf die Website hochgeladen, so entsteht ein digitaler Stadtplan über das jüdische Leben in Hamburg.

Die Hamburger Körber-Stiftung leitet und koordiniert den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, bei dem Jugendliche regelmäßig historische Themen erforschen können. Dadurch wird zu einen wissenschaftliches Arbeiten gefördert, zu anderen Selbständigkeit und Verantwortung Über 141.000 SchülerInnen haben sich seit 1973 mit mehr als 31.500 Projekten beteiligt. Die Online-Datenbank dokumentiert über 5.200 preisgekrönte Wettbewerbsarbeiten. Auch länderübergreifend können sich junge Menschen für „Geschichte von unten“ engagieren: Das Geschichtsnetzwerk EUSTORY regt jugendliche Europäer zur gemeinsamen Beschäftigung mit aktuellen Fragen europäischer Geschichte an. Das Netzwerk verbindet zivilgesellschaftliche Organisationen aus über 20 Ländern Europas, die nationale Geschichtswettbewerbe durchführen. Im Fokus stehen der grenzüberschreitende Erfahrungsaustausch und die politische Meinungsbildung.  

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Wissen. Können. Weitergeben!

Beobachten, denken, sammeln, zählen, sortieren, auswerten, kategorisieren – wie in der Profiwissenschaft gehören diese Tätigkeitsfelder auch in den Bereich der Bürgerwissenschaft. Der von der UNESCO propagierte Leitspruch für das immaterielle Kulturerbe lautet: „Wissen. Können. Weitergeben“. Im Umfeld von Vereinen, Trägergruppen und Gemeinschaften des immateriellen Kulturerbes werden Erfahrungen und Erkenntnisse zusammengetragen, praktiziert und geteilt: Handwerkstechniken wie Reetdachdecken (digitale Weitergabe von Wissen?, Herkunft von Reet früher und heute?) und Kenntnisse über Brotkultur  (Brotregister Deutschland – in welcher Region wird Brot gegessen?), traditionelles Wissen wie Kneipp-Kultur und Hebammenwesen (Erforschung und Weiterentwicklung von Wissen und Methoden), Morsen (als Vorläufer der Digitaltechnik) und Genossenschaftsidee (Idee und Praxis im Wandel der Zeit).

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Vorbild für lebenslanges Lernen

Mit hoher intrinsischer Motivation investieren Laien viel Zeit und Herzblut, um beispielsweise die Geschichte des eigenen Stadtteils oder des Dorfes zu recherchieren, Zeitzeugen zu befragen und regionale kulturelle Bräuche, Rituale, Handwerkstechniken zu erforschen, zu praktizieren und mit neuen Impulsen zu versehen. Erkenntnisse über Megatrends wie Digitalisierung, Demografiewandel, Vielfalt und Coworking fließen ebenso mit ein. Es geht darum, Wissen zu bewahren, mit neuen Methoden (open data) zu aktualisieren und an andere Menschen weiter zu vermitteln. Citizen Science zeigt vorbildhaft, wie lebenslanges Lernen schon heute ohne Zwang oder Einwirkung von außen mit positiver Wirkung für unsere Gesellschaft erfolgreich praktiziert wird, generationenübergreifend in interdisziplinären und transdisziplinären Gruppen. Bürgerwissenschaft stützt sich auf die Weisheit der Vielen.

Citizen Science international

In Großbritannien und Wales arbeiten interessierte Bürger seit längerer Zeit im Rahmen von Community-Archaeology-Projekten an historischen Themen mit. Das Portable Antiquities Scheme (PAS) ermöglicht es Bürgern, archäologische Funde auf einer  Webseite zu melden und die per crowdsourcing gewonnenen Objekte bzw. Erkenntnisse auch selbst auf der gemeinsam geschaffenen Funddatenbank zu nutzen.  In der Plattform micropasts animiert das British Museum Laienforscher auf spielerische Art, neue Informationen über die britische Vergangenheit zu sammeln, z. B. archäologischer Fundorte über Grobinformationen auf Fundkarten oder Fotos zu lokalisieren bzw. alte Handschriften auf hochauflösenden Bildern zu transkribieren. 

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Laien bestimmen Kunstwerke

Nach dem Vorbild naturwissenschaftlicher Pflanzenbestimmung lädt die Plattform ARTigo interessierte Laien dazu ein, Kunstwerke näher zu beschreiben abzugeben. Vorgestellt werden Bilder aus der europäischen und außereuropäischen Kunstgeschichte. Gemeinsam bzw. in Konkurrenz mit einem unbekannten, irgendwo im Internet zugeschalteten Mitspieler können die Laien Beschreibungen eingeben, die später dann zur Suche nach den Werken verwendet werden. Die Begriffe können frei gewählt werden, sich auf Inhalt und Form beziehen oder Atmosphäre und Anmutung der Werke beschreiben. Die Qualitätskontrolle ist erfolgt, wenn die Begriffe von beiden Mitspielern eingeben und akzeptiert werden.

ScHule und Universität

Auch im schulischen Umfeld werden Citizen Science-Projekte sehr erfolgreich umgesetzt, wie z. B. Plastic Pirates. Jugendliche „kapern“ an Ufern von Flüssen und in Gewässernähe Plastikmüll, sie erforschen die Müllverschmutzung deutscher Fließgewässer und lernen, wie wissenschaftliches Arbeiten abläuft. Inzwischen beschäftigen sich Jugendliche in ganz Europa mit dem Thema.

Die Westfälische Wilhelms-Universität Münster sucht aktiv Kontakt zu Bürgern. Gemeinsame Radtouren Expedition Münsterland sollen eine Brücke zwischen Wissenschaft und Gesellschaft bauen. Dabei soll ein Austauschprozess zwischen Region und Universität angeregt werden – nach dem Motto: die Region nutzen und ihr nützen. Bürger werden aktiv in wissenschaftliche Veranstaltungen einbezogen. Gleichzeitig soll Wissen aus der Universität Münster an die Bevölkerung, an Unternehmen und Kommunen vermittelt werden. Eine engere Zusammenarbeit mit Bürgerforschern pflegt auch die Leuphana Universität Lüneburg mit der Initiative Deutschland-Europa-Welt 2042 und die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde mit Waldklima-Messstationen und einem Zentralen Ökologischen Labor

Universität sucht Bürger

 © Stephanie Hofschlaeger, pixelio.de

Open Data

Die Wahl geeigneter Instrumente und Technologien ist auch in der Bürgerwissenschaft von Bedeutung. Open data ist ein nützliches Hilfsmittel, um kulturhistorisch relevante Daten zu sammeln und öffentlichkeitswirksam aufzubereiten, z.B. in Grafiken und Animationen. Die englischsprachige Plattform our world in data entstand auf Initiative des deutschen Forschers Max Roser. Sie bereitet zwar in erster Linie Studiendaten aus der Profiwissenschaft mit Grafiken und anderen Visualisierungen auf. Jedoch gibt es auch Datendossiers zu kulturwissenschaftlichen Themen, z. B. zum postmaterialistischen Wertewandel in Europa in den letzten Jahren. So werden Forschungsarbeiten stärker in die Öffentlichkeit gerückt und für ein größeres Publikum greifbar gemacht. 

Auch in Deutschland nimmt das Thema Open Data mit dem Datenjournalismus bzw. der Datenvisualisierung endlich Fahrt auf. Vorreiter sind hier oft Medienhäuser wie ZEIT, Süddeutsche Zeitung, Morgenpost und die Hamburger Datenfreunde GmbH – OpenDataCity, eine Agentur für Datenjournalismus und Datenvisualisierungen. Das Team aus Journalisten, Entwicklern und Visualisierern erstellt alle Applikationen als freie Software und sämtliche Daten als open data für Recherchen und zur Weiterentwicklung zur Verfügung. Inzwischen haben die Stadt Hamburg und  Verwaltungen anderer Städte und Gemeinden Open Data-Portale ins Netz gestellt, ihre Zahl wächst stetig. Ein Datenjournalismus-Katalog gibt Auskunft über die einzelnen Projekte, u. a. über Geschichte, Kultur und Religion. Hier könnten Bürgerwissenschaftler zukünftig stärker einbezogen werden.

Interessante Fragen gibt es zuhauf, z. B. wieviele Musikaufführungen werden im Jahr von Profi-Musikern bestritten und wieviele von Amateurmusikern? Wieviel Gesundheitskosten spart der Staat, weil die Bürger in Chören singen (Chor der Muffligen) oder sich in Vereinen engagieren – ein hervorragendes Therapeutikum gegen Einsamkeit, Depression, Süchte, Ersatzdrogen und Burnout!  

Neue brisante Themen

Was die akademische Wissenschaft erforscht, hängt auch von Finanzmitteln und Budgets ab. Was nicht im Interesse von Wirtschaft und Politik liegt, wird nicht erforscht. Bürgerwissenschaftler könnten als Vorreiter jene Themen sichtbar machen, um die die klassische Forschung der Universitäten und Institute einen Bogen macht. Ein Beispiel: Künstler und Kreative suchen seit langem nach einer Möglichkeit, Nutzen und Wirksamkeit ihrer Arbeit nachzuweisen und sichtbar zu machen – im Hinblick auf Regional- und Stadtentwicklung, Gesundheitskosten, Arbeitslosigkeit, höhere Steuereinnahmen durch neue Wertschöpfungsketten, die durch Kreativschaffende initiiert sind. 

Laut European Health Forum Gastein (2013) erzeugen z. B. Angstkrankheiten in Europa jährliche Kosten von fast 1 Billion Euro, Alkoholismus kostet die Kassen 150 Mrd. Euro, 60.000 Suizide etwa 100 Mrd. Euro, auch Suchtkrankheiten verursachen stetig hohen volkswirtschaftlichen Schaden. Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur würde als sinnstiftendes und daher wirksames Gegenmittel enorm hohe Kosten einsparen.  

Volkswirtschaftlicher Wert von Kultur und Kunst

Künstler haben schon oft brachliegende, verödete Regionen neu belebt. Sie sorgen mit ihren Aktivitäten nachhaltig für mehr Attraktivität vor Ort, was die Kultur des Bleibens bzw. Zuzugs neuer Bevölkerungsgruppen stärkt. Sie wirken als Brückenbauer und Intermediäre, nicht zuletzt bei der Integration von Geflüchteten. Sie regen die Kommunikation unter Bürgern und die Gründung und Erhaltung von Vereinen an, verbinden sie mit Verwaltung und Politik und initiieren kreative, innovative und kollaborative Projekte vor Ort, um Strukturen zu erneuern oder zu revitalisieren, z. B. im Zuge von KreativLabs wie in Mecklenburg-Vorpommern.  Dies hat einen enormen gesellschaftlichen und auch ökonomischen Wert, der bislang aber nicht in Zahlen erhoben oder durch systematische Beobachtung und Zählung registriert wird. Hier könnte Bürgerwissenschaft einen enorm innovativen Beitrag leisten. ZIVIS weit regelmäßig in Studien nach, dass der soziale Zusammenhalt und Wohlstand in Regionen mit der höchsten Vereinsdichte am größten ist.

Kreative und Stadtrendite

Wie könnten Bürgerwissenschaftler durch open data nachweisen, dass Künstler und Kreative enorm zur Steigerung von Stadtrendite beitragen? Fakt ist: Sie beleben unattraktive Zonen und Industriebrachen mit ihren kreativen Angeboten und Aktionen, wovon zunächst neue Cafés und Restaurants profitieren, die sich nach und nach ansiedeln. Durch die wachsende Attraktivität erzielt später die Immobilienbranche höhere Gewinne, ebenso Hotellerie, Gastronomie, Nahverkehr, Einzelhandel usw. Wenn Mieten und Kosten steigen (Gentrifizierung), müssen Kreative oft weichen. Ggf. könnten Mietenspiegel und branchenspezifische Umsatzregister und deren datenjournalistische Aufbereitung die Wertsteigerung bzw. das Wachstum der Stadtrendite sichtbar machen (MIETENWATCH). Ziel wäre es, aus den nachweisbaren Mehreinnahmen einen „creative fund“ zu speisen, um die Kreativen als Anschubmotoren und Urheber der Wertschöpfungsketten an den Gewinnen zu beteiligen.

Naturstudie – Kulturstudie

Die ambitionierten Helmholtz-Studie Naturkapital Deutschland beziffert erstmals den Wert von Natur in Fakten und Zahlen. Sie fragte z. B.: Welchen ökonomischen Wert hat ein Moor? Es bindet u. a. Stickoxide, die üblicherweise mit hohem finanziellen Aufwand in technischen Verfahren aus Luft und Wasser entfernt werden müssten. Vielleicht ließe sich solch ein Ansatz übertragen, damit auch Kultur entsprechend wertgeschätzt bzw. damit der volkswirtschaftliche Nutzen der Leistungen von Künstlern und Kreativschaffenden beziffert werden kann?! Welche sozialen Einsparungen wären möglich, wenn Menschen mit Hilfe von Kunst und Kultur ihr Potenzial erproben und in geeignete Berufe finden könnten und dies vor Arbeitslosigkeit, Unzufriedenheit, Krankheit, Burnout bewahrt?! Zusammenhänge, die offensichtlich sind, aber meines Wissens bislang noch nicht in validen Untersuchungen dargestellt wurden. 

Mehr Sichtbarkeit

Citizen Science im Umfeld von Kultur und Geschichte braucht dringend mehr Sichtbarkeit. Dazu können digitale Plattformen wie Bürger schaffen Wissen ebenso beitragen wie Workshops, Kongresse, Aktionstage, Online-Befragungen und Ausstellungen. Zentrale Anlaufstelle für alle Aktivitäten rund um das Europäische Kulturerbejahr 2018 ist das Webportal sharingheritage.de – eine Informationsquelle, die darstellt, was, wann und wo etwas im Rahmen des Jahres passiert. Alle Mitmacher – egal ob große geförderte Leuchtturmprojekte oder zivilgesellschaftlich Engagierte auf lokaler Ebene – können sich präsentieren und vernetzen.

  © Stephanie Hofschlaeger, pixelio.de

Buch-Tipps

Peter Finke: CITIZEN SCIENCE. Das unterschätzte Wissen der Laien, Oekom Verlag 2014.

Peter Finke (Hg.): Freie Bürger, freie Forschung. Die Wissenschaft verlässt den Elfenbeiturm. Originalbeiträge von 36 Autorinnen und Autoren. Oekom Verlag 2015.

Citizen Science-Podcast der Forschergeist-Reihe des Deutschen Stifterverbandes von Tim Prilove im Gespräch mit Peter Finke

James Surowiecki: Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne und wie wir das kollektive Wissen für unser wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln nützen können. Bertelsmann 2005.

Kristin Oswald & René Smolarski (Hg.): Bürger Künste Wissenschaft. Citizen Science in Kultur und Geisteswissenschaften. Computus Verlag 2016, Download

Interview mit der Projektleiterin der Online-Plattform „Bürger schaffen Wissen“ im Deutschlandfunk: Meistens reicht ein Smartphone 

Netzwerke und Online-Plattformen

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