Imagination und SocialTecture: Stadtplanerin Julia Erdmann
Stadtplanung und Stadtentwicklung hat viel mit imaginären Fähigkeiten zu tun. Nur wer eine starke Vision hat, kann daraus Ziele und Strategien entwickeln, sagt die Stadtplanerin Julia Erdmann bei einer Podiumsveranstaltung. Insbesondere wenn es gilt, ganze Quartiere neu zu entwerfen, sind Visionen wichtig: Wofür soll das Quartier stehen? Wer soll im Quartier leben? Welche Wünsche haben die Bewohner:innen? Was soll das Quartier auszeichnen?
Bilder im Kopf
Erdmann ist Gründerin des Netzwerkes JES.place, das sie seit 2017 leitet. Sie versteht die grundlegende Aufgabe von Architekten darin, etwas zu durchdenken, gedanklich zu entwerfen und „etwas zu sehen, was andere noch nicht sehen können.“ Erdmann nennt als eine ihrer wichtigsten Methoden die Imagination, „die Kraft, sich etwas vorzustellen, was sein könnte, wo jetzt noch nichts ist…“ Sie erklärt: „Wenn ich irgendwo bin, sehe ich sofort Verknüpfungen und Bilder. Ich kann mir Dinge vorstellen, da denken die meisten noch gar nicht dran. Auf dieser Grundlage (geht es mir darum), bestimmte Fragen zu stellen und auch andere einzuladen, ihre Vorstellungen zu äußern. Wir bringen die anderen dazu, ihre Ideen zu artikulieren und mit einfließen zu lassen. Daraus entwickeln wir alles andere weiter.“
Architektur und Soziales verbinden
Für ihr methodisches Vorgehen hat Julia Erdmann das Kunstwort SocialTecture erdacht, eine Verbindung von „Social Design“ und „Architecture“. Dahinter steht das Ziel, Stadtplanung sozialer und menschlicher zu machen. Dafür muss Stadtplanung ganzheitlich und interdisziplinär erfolgen und beispielsweise auch Soziologie, Ökonomie und Psychologie einbeziehen sowie als Akteur:innen: Eigentümern, Stadt, Politik, Architekten und spätere Bewohner:innen und Nutzer:innen. Im Juni 2022 trägt Erdmann das Thema SocialTecture bei einer SummerSchool in die Breite. Interaktiv und kokreativ diskutiert sie mit Expert:innen an wechselnden Orten, gibt inhaltliche Impulse und leitet intensive Konzeptarbeit in Teams an. Die wiederum erkunden und analysieren Orte und fragen, ob Architektur und Leben, Hülle (= tecture) und Inhalt (= social), zusammenpassen. Gearbeitet wird immer „hands-on“, d. h. praxisbezogen, um mögliche Herangehensweisen, Ideen und Lösungen zu erschließen.
Teilhabe und Ansprache
Stadtentwickler sind heute auch sprachlich herausgefordert, sagt Erdmann. Unverständliche Fachbegriffe und abschreckende Formulierungen aus der Verwaltungssprache hindern interessierte Bürger:innen unnötig, an partizipativen Verfahren mitzuwirken. Statt „Wettbewerbliches Dialogverfahren“ oder „Testplanverfahren“ sollte man sich lieber mit verständlichen Begriffen und Fragen an die Bürger:innen wenden, etwa „Wie wollt Ihr in Zukunft leben?“ „Wie soll sich Euer Neues Zuhause anfühlen?“
Bilder statt Worte
In ihrem JES-Netzwerk nutzt Erdmann in Beteiligungsworkshops z. B. Bilder statt Worte, um auch Menschen mit wenig Deutschkenntnissen oder eingeschränkten sprachlichen Fähigkeiten zu erreichen und zu Meinungsäußerungen zu ermutigen, ganz niedrigschwellig. So könne die Stadt menschlicher werden, wenn Teilnehmer:innen „benachbarte Häuser als Familie oder Geschwister“ beschreiben, so Erdmann. Sie sei überrascht gewesen, wie einfach und dennoch klar Bewohner:innen ihre Eindrücke von Häusern und Quartieren beschreiben, sowohl zustimmend als auch ablehnend: hell, einladend, gesellig, verbindend, gemütlich, bunt versus unpersönlich, kalt, grau, einschüchternd, gesichtslos. Diese Erfahrungen gibt Erdmann gerne in der Stadtplanerszene weiter und wirbt darum, mehr Verständnis für bislang ungehörte Menschen und Gruppen aufzubringen. Die Ansprache für Bürgerdialoge müsse zeitgemäßer werden und zum Beispiel über Communities statt über Plakate erfolgen, am besten direkt über soziale Netzwerke.
Transformation
Damit der Wandel gelingt, stellt Erdmann zunächst einmal viele Fragen: „Warum verlieren Innenstädte zunehmend an Bedeutung? Warum wirken neue Quartiere oft leblos? Warum sind Städte meist nur für Autos gedacht? Warum entstehen überall Kisten – aber keine Häuser?“ Gewohntes und Routinen werden wird in Zweifel gestellt. Die Haltung „Das haben wir schon immer so gemacht“ lässt Erdmann bei ihren Auftraggebern und Kooperationspartner nicht gelten. Sie will Innenstädte ganz neu denken und Innenstädte neu programmieren. Sie engagiert sich insbesondere dafür, dass Häuser wieder Dächer erhalten. Sie kämpft für mehr Gesicht und Charakter in der Architektur: „Häuser ohne Dächer sind gesichtslose betongewordene Exceltabellen“, sagt Erdmann.
Bremen
Ihr bislang größtes Projekt hat sie in Bremen realisiert. Im Auftrag der Zech Group sucht sie am Bremer Hafen nach einem frischen Konzept für die Freifläche am Übergang zwischen Innenstadt und Hafen – dem Europa-Hafenkopf. Als Alternative zu sonst üblichen Architekturwettbewerben initiiert sie eine kokreative Ideenmeisterschaft mit insgesamt sechs Architekturbüros. Den Zuschlag erhält das Kopenhagener Büro Cobe. Überzeugt hatte deren Konzept aus personifiziertem Design und Storytelling. In Anlehnung an die vier Bremer Stadtmusikanten entwarf Cobe ein Ensemble mit vier charakterstarken Gebäuden mit unterschiedlichen Dächern, die einen Platz umrahmen. Es entstehen Büros, Loft-Wohnungen, ein Foodmarkt, lebendige Erdgeschosse, außergewöhnliche Hochpunkte und Freiräume – ein völlig neues Quartier. Cobe schreibt auf seiner Website: „Inspiriert von der bestehenden Architektur und den Dachlandschaften in der historischen Innenstadt Bremens soll ein Ensemble von Gebäuden entstehen, die alle ihren eigenen Charakter haben, aber dennoch ein starkes Gefühl von Zusammenhalt vermitteln…Die Fassade der Gebäude wird in verschiedenen Rottönen gehalten sein, ähnlich wie bei den bestehenden historischen Gebäuden in der Innenstadt und im Hafengebiet.“
Gemeinsam und Kokreativ
Das JES-Netzwerk entwirft auch Räume für das Arbeiten von morgen. Nutzungsarten werden neu durchdacht und Menschen zum Mitgestalten animiert und nicht zuletzt auch für klimafreundliche Mobilität motiviert. Kokreative Formate werden entwickelt und digitale Beteiligung angeregt. Auch für die Stadt Meppen hat JES mit Co-Geschäftsführerin Indra Musiol solch ein kokreatives Konzept entwickelt. Die emsländische Kreisstadt konnte gemeinsam mit ihren Bürger:innen und Stakeholdern Ideen für das eigene Zentrum erarbeiten.
Placemaking
JES verwandelt alte Hafengebiete in lebendige Stadtteile und erarbeitet neue Betreibermodelle. Erdmann versteht Ihre Tätigkeit vor allem als „Placemaking“ – im inhaltlichen Ausgestalten von Orten, dem Aufspüren von Geschichte, dem Finden passender Nutzungsideen und geeigneter Personen und Köpfe, die Orte lebendig machen