Kreative Genossenschaften: Einer für alle, alle für einen
„Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, wie die Welt jemals verändert wurde.“ Margaret Mead, US-amerikanische Ethnologin und Kulturanthropologin
Der Holzmarkt in Berlin-Friedrichshain ist ein bunter und charmanter Ort urbaner Kreativität. Vielfältig, inklusiv und sinnstiftend wirkt er in die Metropole hinein, auch deshalb, weil das Kultur- und Manufakturquartier als Genossenschaft organisiert ist.
Leitlinien
Am Holzmarkt haben sich Menschen zusammengefunden, die eine Vision haben: sie wollen nach fairen Grundsätzen nachhaltige, soziale und kulturelle Projekte ermöglichen und unterstützen. Gemeinsam wollen sie beweisen, dass wirtschaftlicher Erfolg auch dann bzw. nur dann möglich ist, wenn mit Menschen und Ressourcen behutsam und verantwortungsvoll umgegangen wird. Und das gelingt am besten mit dem Genossenschaftsmodell. Im Manifest der „Genossenschaft für urbane Kreativität“ vom 23.04.2013 heißt es:
“Die Genossenschaft ist dem Wohl Ihrer Mitglieder und dem Erhalt des Vermögens verpflichtet, strebt jedoch nicht nach einer Maximierung monetärer Renditen… Die Genossenschaft beteiligt sich mit Ihrem von den Mitgliedern eingezahlten Vermögen ausschließlich an Unternehmen und Projekten die den in diesem Manifest vereinbarten Kriterien entsprechen.”
© MassivKreativ, Berlin, Holzmarkt
Gemeinschaftsprinzip
Die Genossenschaft ist ein Lösungsmodell für Aufgaben und Probleme, die ein Einzelner nicht bewältigen kann, eine solidarische Gemeinschaft aber schon. Und so ist diese Organisationsform die Antwort bzw. die Alternative zu unserem aktuellen Wirtschaftssystem. Dessen Schwachstellen haben vermehrt zu Krisen und zum Reichtum einiger weniger geführt. Die Genossenschaft bietet demokratische Strukturen, weil sie die Interessen der Mitglieder in den Mittelpunkt stellt und damit den Wohlstand und die Lebensqualität vieler Menschen.
© MassivKreativ, Berlin, Holzmarkt
Gleichheitsprinzip
Die Genossenschaft ist auch ein Unternehmensmodell. Viele Kreativschaffende haben es bewusst für sich gewählt. Es zielt auf Teilhabe und auf die gerechte Verteilung der Gewinne, von denen auch die jeweiligen Regionen profitieren. In der Genossenschaft hat jede Person eine Stimme, unabhängig vom eingebrachten Kapital bzw. von den Genossenschaftsanteilen. Alle Mitglieder sind gleichberechtigt. Es gelten demokratische Kernwerte: Solidarität, Gerechtigkeit, Freiwilligkeit und der Leitspruch: „Einer für alle, alle für einen!“
© MassivKreativ, Berlin, Holzmarkt
Teilen als Selbstverständnis
Die sharing-economy hat der Idee des Teilens neuen Auftrieb gegeben: Wohnungen, Büros, Autos, Werkzeuge, Gärten, Konsum und Lebensmittel, Bücher, Kleidung, Finanzen – alles kann geteilt werden. Auch kreatives bürgerschaftliches Engagement, das „soziales Kapital“ schafft und damit enorme Bedeutung für die Volkswirtschaft besitzt. Es erspart dem Staat Kosten für Regularien und Hilfeleistungen zum Wohle der gesamten Gesellschaft. Gemeinschaften können Aufgaben und Konflikte jenseits staatlicher Eingriffe auf der Basis von Wertschätzung und gegenseitigem Vertrauen lösen.
Zahlen und Statistik
Etwa jeder vierte Bürger in Deutschland ist heute Mitglied in einer Genossenschaft, etwa 21 Millionen Menschen. Weltweit sollen es in über 100 Ländern 800 Millionen sein. Wie modern, aktuell und lebendig dieses Organisationsmodell ist, hat die UNESCO-Kommission 2016 bekräftigt. Sie nahm die Genossenschaftsidee in die internationale Liste des immateriellen Kulturerbes auf. Neben Projekten für Wohnen, Öko-Landwirtschaft, Banken, Handel, Energieerzeugung und Krankenhäuser organisieren sich immer mehr Kreative in genossenschaftlichen Vereinigungen. Ebenso interessantes, aber noch weitgehend unbekannt ist die gemeinnützige Aktiengesellschaft, kurz gAG, für dieses Modell haben sich u. a. die Werkstattschule Rostock entschieden sowie schon seit 1844 der Zoologische Garten Berlin, der älteste Zoo in Deutschland und der artenreichste Zoo der Welt.
© MassivKreativ, Berlin, Holzmarkt
Kreativgenossenschaften
Genossenschaften bieten Freiraum, um Leben und Arbeit eigenverantwortlich und kokreativ zu gestalten und gemeinschaftlich von der Wertschöpfung zu profitieren. Vor allem – aber nicht nur – in städtischen Quartieren schließen sich Kreativschaffende zusammen, entwickeln Arbeits- und Probenräume für die freie Kunst-, Tanz-, Theater- und Musikszene, z. B. in Berlin im schon erwähnten Holzmarkt-Areal die „Genossenschaft für urbane Kreativität eG“, in Hamburg die Gängeviertel-Genossenschaft (seit 2010 eG) und die Wiese eG – ein Ort des Miteinanders in einer früheren Maschinenfabrik in Hamburg , der verschiedene Künste, Künstler*innen und Energien unter einem Dach vereint.
© MassivKreativ, Berlin, Holzmarkt
Mischnutzungskonzept
Die fux eG hat sich in der Viktoria-Kaserne in Hamburg zusammengefunden, nach langem Ringen gehört auch eine stillgelegte Schule in der Gartenstadtsiedlung Hamburg-Berne zur Genossenschaft. Den Erfolg soll wie am Berliner Holzmarkt ein Mischnutzungskonzept sichern – aus den Themenbereichen Kultur und Soziales. Geplant sind zum jetzigen Zeitpunkt im Sommer 2021 Ateliers, Räume für Musiker, Musikschullehrer und Darstellende Künste, eine Bühne, Gastronomie in Verbindung mit Kunst und Events. Auch das Thema Gesundheit soll eine größere Rolle spielen, angedacht sind Praxen für Ärzte, Psycho- und Physiotherapie sowie ein Yoga-Raum. Mögen viele weitere kreative Genossenschaften wie diese folgen.
Stadtentwicklung und Wohnen
Für die Belebung der Hamburger Innenstadt engagiert sich seit 2017 die Initiative Altstadt für Alle! – eine zivilgesellschaftliche Initiative, die getragen wird durch die Patriotische Gesellschaft von 1765, die Evangelische Akademie der Nordkirche und die Gruppe „Hamburg entfesseln!“ Gemeinsames Ziel ist es, Begegnungen und Austausch der Bürgerengagement im Stadtteil zu fördern. Aus dem gemeinsamen Engagement hat sich im Dezember 2018 die Genossenschaft Gröninger Hof eG gegründet, um das alte Parkhaus an der Katharinenkirche zu einem Wohnhaus umzubauen und aus bestehender Bausubstanz bezahlbaren Wohn- und Gewerberaum zu schaffen – nach dem Motto „Autos raus, Menschen rein“. Gleichzeitig sollen Wohnen, Arbeiten und Kultur miteinander verbunden werden. Eine vielfältige soziale Durchmischung der Nutzer*innen soll die gemeinschaftlichen Einrichtungen fördern und einer nachhaltigen Entwicklung dienen.
© Hamburg, Groeninger-Hof.de
Modellprojekt Elektrizitätswerk
Das ehemalige Elektrizitätswerk, das Kraftwerk Bille in Hamburg Hammerbrook, hat eine bewegte Geschichte. Im 2. Weltkrieg wurden weite Bereiche zerstört, ab den 1970er Jahren siedelten sich Kleinbetriebe an, u. a. Künstlerateliers, Lagerflächen, Fotostudios. 2011 wird das Gebäude als Zeugnis der Industriegeschichte unter Denkmalschutz gestellt. Mit städtebaulichen Veränderungen beginnen Vorbereitungen für Sanierungen und damit wachsen auch Begehrlichkeiten. Die kreative Zwischennutzung ist zunehmend gefährdet. Eine private Eigentümergesellschaft, die Kraftwerk Bille Hamburg GmbH, hat das Objekt erworben.
Der gemeinnützige Hallo: Verein zur Förderung raumöffnender Kultur e.V. plant die Gründung der Genossenschaft WERK eG. Die Vereinsmitglieder möchten einen Gebäudeteil von der jetzigen privaten Eigentumsgesellschaft erwerben und betreiben: „Wir fordern von der Eigentümergesellschaft Kraftwerk Bille Hamburg GmbH den Verkauf eines mindestens 4.000qm großen Gebäudeteils des Kraftwerk Bille an die WERK eG zu einem fairen Preis“, heißt es dazu auf der Website des Vereins, der bereits 2015 gegründet wurde. Damit sollen Räume für Kunst und Kultur, Forschung, Produktion und Soziales geschaffen, dauerhaft gesichert und der Boden für Spekulation entzogen werden. Am 17. August 2022 teilt der Hallo:Verein in einem Newsletter mit: „Die Verhandlungen mit dem Investor um die langfristige Nutzung im Kraftwerk Bille sind gescheitert. Zum Jahreswechsel müssen wir die Schaltzentrale verlassen. Unsere Gemüter sind schwer, aber die Pumpen laufen trotzdem auf Hochtouren, denn es gibt viel zu tun und einige offene Fragen.“
Der Hallo:Verein wirkt an der Schnittstelle zwischen Stadtteilkultur, Kunst und Stadtentwicklung. Im interaktiven Austausch loten die Akteur*innen Formen der Mitbestimmung bei der Stadtgestaltung aus. Dazu gehören z. B. nachbarschaftliche und künstlerische Raumproduktionen, Zwischennutzungen, wie die Künstlerproduzentenmesse P/ART, die HALLO: Festspiele sowie vielfältige Musik- und Theaterperformances. Die Akteur*innen wünschen sich für ihr lebendiges und kreatives Quartiers langfristig eine Mischnutzung mit Büros, Ateliers, Gastronomie, Produktion und Veranstaltungen. Mit einem eigenen Team wird außerdem das Projekt PARKS realisiert, um gemeinschaftlich Freiräume zu entwickeln.
© MassivKreativ, Hamburg, Kraftwerk Bille
Das Kraftwerk Bille wurde 2021 vom Innenministerium als Nationales Städtebauprojekt ausgewählt und soll von Bund und Stadt Hamburg mit rund 9 Mio. € gefördert zu werden. Die geplante Genossenschaft WERK will in diesem Rahmen einen Gebäudeteil des Kraftwerk Bille von der jetzigen Eigentümergesellschaft ‘Kraftwerk Bille Hamburg GmbH’ gemeinschaftlich kaufen, sanieren und selbst verwalten: „In enger Kooperation mit dem Bezirk Hamburg-Mitte und weiteren städtischen Vertreter*innen soll das Konzept zu einem Modellprojekt für gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung mit nationaler Strahlkraft weiterentwickelt werden.“ (weitere Infos)
© MassivKreativ, Hamburg, Kraftwerk Bille
© MassivKreativ, Hamburg, Kraftwerk Bille