Mind the Progress – Kongress zu Kreativität und Digitalisierung
Ist es denkbar, dass der DJ-Beruf ausstirbt und von einer Künstlichen Intelligenz, kurz KI, ersetzt wird – in Clubs und auf Festivals? Ist vorstellbar, dass wir auf der Tanzfläche über ein digitales Armband getrackt und mit einer KI vernetzt werden, während der künstliche Watson-DJ in Echtzeit den passenden Beat und Stil in den Saal hineinspielt – abgestimmt auf den Pulsschlag der Tänzer? Inwiefern macht Künstliche Intelligenz der menschlichen Kreativität Konkurrenz? Diesen und weiteren Fragen widmete sich der zweitägige Kongress „Mind the Progress“ in Hamburg.
Kreative Vielfalt durch Digitalisierung
Kreative sind „Pioniere in der Veränderung von Marktsituationen“, lobte Kultursenator Carsten Brosda in seinem Eröffnungsvortrag die Innovationskraft von Kreativen. Und mahnte, viele in Deutschland würden Veränderungen ignorieren bzw. verschlafen. Symbolisch für die Situation kursiere ein Satz über Startups: „In Israel werden sie erfunden, in den USA monetarisiert und in Deutschland reguliert.“ Der Kongress und seine kompetenten Referenten lieferten in vielfältigen Formaten vor allem abwechslungsreiche Beispiele aus den Bereichen Kreativität und Digitalisierung. In Keynotes, Panels, Vorträgen und im Rahmenprogramm konnten die Besucher ihren Blick auf das Thema erweitern.
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Was ist Kreativität?
Kreative Produktionsprozesse werden dank Digitalisierung immer bunter und vielfältiger. Virtual Reality, Augmented und Mixed Reality sorgen ebenso wie 3D-Druck für neue Ausdrucksmöglichkeiten. Künstliche Intelligenz, kurz KI, dringt zunehmend in künstlerische Bereiche ein.
Kreativ zu werden heißt, etwas Neues zu erfinden. Dies gelingt auch, wenn Altes neu kombiniert wird. Ob das Neue auch innovativ ist und einen Mehrwert liefert, entscheiden wir Menschen. Unzählige Berater und Coaches strömen seit Jahren durch Institutionen und Unternehmen, um Mitarbeitern angebliche Geheimtipps für mehr Kreativität zu vermitteln. Dabei ist noch gar nicht geklärt, wie Kreativität überhaupt entsteht. In seiner Keynote sprach Sascha Friesike, ursprünglich Wirtschaftsingenieur, der jetzt an der VU Universität in Amsterdam lehrt und u. a. in Stanford und St. Gallen forschte, über Herausforderungen, Risiken und Chancen beim digitalen Wandel. Wie verändert sich das Verhältnis von Inhalt und Technologie, Kreativität und Digitalisierung? Inwiefern sind digitale Technologien Medium für kreative Ausdrucksformen?
Friesike zeigte in seinem Impulsvortrag anhand von Beispielen, dass Transformation nicht durch einen einmaligen Vorgang fertig vollzogen werden kann. Transformation sei ein ständig andauernder, langwieriger Prozess, so Friesike. Die Lösung für unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen sei nicht allein in der Technologie enthalten. Kreative Tätigkeiten erzeugen in erster Linie qualitative und nicht quantitative Ergebnisse durch Lesen, Schreiben, Denken. Anhand von „additiver“ und „subtraktiver“ Kreativität, bei der Dinge ergänzt oder weggelassen werden können, erläuterte Friesike den Prozess der Disruption. Er prognostiziert etwas kühn: Kreativität werde langfristig durch Künstliche Intelligenz ersetzt. Vielleicht protestiert das Publikum gegen diese etwas kühne Thesen nicht aufgrund tropischer Temperaturen im Saal. Was hingegen sicher zu sein scheint: Die Praxis der Arbeit wird sich durch Künstliche Intelligenz stark verändern.
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Künstliche Intelligenz im Alltag
Was kommt in der Evolution nach dem Menschen? Was könnte dem homo sapiens folgen? Ist es Technologie, also eine Kombination aus Mensch und Maschine? Bleiben wir auf diese Weise die „Krone der Schöpfung“ oder schaffen wir uns mit Künstlicher Intelligenz langfristig selbst ab? Einige Biowissenschaftler vertreten bereits heute den Standpunkt, wir Menschen seien im Grunde nur „biologische Algorithmen“. Darüber schreibt auch der israelische Autor Yuval Harari in seinem Buch «Homo Deus: Eine Geschichte von morgen».
Fakt ist: Künstliche Intelligenz ist bereits tief in unseren Alltag vorgedrungen. Sie ist vielerorts Mitbewohnerin geworden – Stichwort „smart home“. Sie bestimmt unser Konsumverhalten, sie verändert unser Zusammenleben, unsere Arbeitswelt und rüttelt an den Grundfesten unseres Selbstverständnisses.
In einem Kurzinterview gegenüber der Hamburg Kreativ Gesellschaft erklärt die Wissenschaftsjournalistin Manuela Lenzen den Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz so: „Vor allem ist menschliche Intelligenz flexibel. Wir können uns auf immer neue Situationen einstellen. Künstliche Intelligenzen sind Spezialisten. Sie können manche Dinge besser und schneller als der Mensch, dafür aber nichts anderes. Und die menschliche Intelligenz ist auf Engste mit dem menschlichen Körper verbunden, der z.B. regelt, was wir wie wahrnehmen können. Wie intelligent die Künstliche Intelligenz werden kann, ohne sich daran zu orientieren, ist unklar.“
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Digital Art
Die zweitägige Tagung „Mind the progress“ ließ keine Langeweile aufkommen. Vielfältige Formate sorgten für Abwechslung, auch über kreative Produktionen selbst. Das Smartphone hat unseren Alltag smart gemacht. Immer neue Gadgets bereichern unser smart home und unsere smart city. Heißt smart stets: innovativer, intelligenter, individueller? Inwiefern kann auch die Kunst smarter werden? Im Panel „Digital Art“ sprach Künstlerin Giulia Bowinkel über die Erweiterung von Wahrnehmungserlebnissen durch Virtual Reality und durch die Kombination von Liveperformance und digitaler Animation. Lina Wassong schwärmte über virtuelle Planungs- und Fertigungsverfahren, die ihr als Künstlerin eine ungeahnte Formenvielfalt ermöglichen. Julian Adenauer, Gründer des RETUNE-Festivals, engagiert sich für künstliche Intelligenz im künstlerisch-kreativen Umfeld abseits nutzergetriebener Anwendungen in der Wirtschaft. Er schätzt dabei vor allem den interdisziplinären Ansatz. Ulrich Schrauth, Initiator und Kurator des Festivals VRHAM! stellte die Immersionskraft von VR-Simulationen im Umfeld des Theaters heraus.
Vielfältige Realitäten: VR – AR – MR
Im Publikum wurde die Frage nach den Produktionsbedingungen für digitale Kunst gestellt. Julian Adenauer betonte, dass es in den künstlerischen Hochschulen vor allem um Feedback und die Entwicklung qualitativer Kriterien für digitale Kunst gehe. Handwerk und technische Fähigkeiten in Bezug auf Sensorik, 3D, VR usw. würden sich junge Künstler vielfach selbst aneignen. Mit Blick auf die Marktorientierung prognostizierte das Podium einen Wechsel der Sammlergeneration: Jüngere technikaffine Kollektionen würden den Schwerpunkt zukünftig stärker auf innovative und digitale Objekte legen. In einem gesonderten Panel wurden neue Geschäftsmodelle durch digitale Technologien diskutiert, die im Zuge von 3D-Druck, VR, Blockchain u.a. entstehen.
Digitales in Museen und Ausstellungen
Was bedeuten digitale Technologien für Museen und Ausstellungshäuser? Über die Herausforderungen und Fragestellungen berichtete Andreas Hoffmann, Archäologe, Programmleiter Kunst und Kultur der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und Geschäftsführer des Bucerius Kunst Forums. Neben der Offenheit für digitale Objekte muss bei Kuratoren auch die Kenntnis über technische Zusammenhänge und Möglichkeiten digitaler Technologien vorhanden sein. „Brauchen wir neue Museen und Austellungshäuser?“, fragte Andreas Hoffmann und beantwortet die Frage eindeutig mit JA. Kuratoren müssen zu „Beziehungstätern“ werden, wenn sie Orte des Lernens schaffen wollen. Das Publikum wird im Museum zum aktiven Mitgestalter. Das Städel-Museum in Frankfurt ist führend in digitalen Technologien, Hoffmann nannte exemplarisch den Selbsternkurs Kunstgeschichte Online . Einige Hürden seien aus Sicht der Museen noch zu überwinden, vor allem was die Anpassung des Urheberrechts betreffe.
Selbst schöpfen statt zu konsumieren
Immer wichtiger wird in Museen die Interaktion und Teilhabe des Publikums. Für mich persönlich ist dabei entscheidend, dass die Besucher sich in einer Ausstellung selbst entdecken bzw. mehr über sich selbst erfahren können. Was hat Kunst mit mir und meinem Leben zu tun? Welche Antwort gibt die Kunst auf meine Fragen an das Leben? Der Museumsbesuch verschiebt sich, weg vom Prozess des Konsumierens, hin zum Prozess des eigenen kreativen Schöpfens. Wie könnte solch eine Interaktion in der Praxis aussehen? Hoffmann erwähnt Beispiele wie iSkullApp und das VR-Projekt Modigliani von Tate Modern in London, Googles Tool CREATISM sowie Female Figure von Jordan Wolfson. Was noch? Besucher könnten eine Eigenkreation an eine virtuelle Leinwand zeichnen, diese Zeichnungen könnten über Algorithmen mit einer Kunst-Datenbank verknüpft werden, z. B. EUROPEANA, so dass der Besucher von seinen eigenen Zeichnungen zu echten Objekten geleitet wird.
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Kreative Maschinen
Technikjournalist und Politikberater Mads Pankow referierte darüber, wie originell Technik überhaupt sein kann. Er präsentierte Beispiele, welche kreativen Bereiche KI bereits erobert hat, die bislang eigentlich Künstlern vorbehalten waren bzw. Akteuren aus der Kultur- und Kreativszene. Die selbstlernenden Systeme komponieren, sie dichten und kochen, sie malen und zeichnen. Sie übersetzen, texten Nachrichten und schneiden Videobeiträge, sie stellen Modekollektionen und Themenmagazine zusammen. Sie kombinieren vorhandene Erzählplots und schaffen so neue Gruselgeschichten und Science-Fiction-Drehbücher
Mensch versus Künstliche Intelligenz
Kann man bei diesen bewältigten Aufgaben tatsächlich von Kreativität sprechen? Mads Pankow meint, dass neuronale Netze bzw. selbstlernende Systeme genau genommen nicht lernen würden, jedenfalls nicht in menschlichem Sinne , sondern sich an jeweils neue Informationen anpassen. Er erwähnte die von Künstlern erfundene Patent-Software All Prior Art, die alte Patente zu neuen Patenten kombiniert, die aber in der Praxis keinerlei Nutzen haben. IBMs KI Chef Watson stellt aus beliebigen Zutaten eigenständig neue innovative Gerichte zusammen, etwa „African Bird Pepper Meatballs“. Ob das schmeckt, bleibt dem Urteil der Probanden überlassen. Muss man Probleme verstehen, um sie zu lösen? Neuronale Netzte haben keinerlei Bewusstsein über das eigene Tun. Was z. B. in der Medizin verheerende Folgen haben könnte, weil Symptome nicht mit menschlichem Verstand interpretiert werden.
Menschliche Vielseitigkeit
Während wir Menschen in der Lage sind, vielfältige Herausforderungen zu lösen, können selbstlernende Systeme zumindest im Moment nur ein Problem fokussieren. Kann Künstliche Intelligenz ein Bewusstsein entwickeln? Darüber sprachen Technikphilosoph Mads Pankow, Kognitionswissenschaftler Kai-Uwe Kühnberger, Cognitive-Computing-Experte Johannes Forster, Wissenschaftsjournalistin und Philosophin Manuela Lenzen und Kuratorin Luba Elliott.
Blockchain als Zukunftsmodell
Über neue Geschäftsmodelle in der Kreativwirtschaft diskutierte ein Panel mit Peter Kabel, Andreas Raabe, Daria Suvorova, Dieter Gorny und Egbert Rühl. Wie entwickelt sich der Wert von kreativen Inhalten? Welche Rolle spielt das Urheberrecht, wie lassen sich kreative Inhalte wirksam schützen? Inwiefern kann die Blockchain-Technologie Lösungen bieten?
© Ute Zimmermann, Pixelio.de / MassivKreativ
Unternehmen als Medienmarken
Im Schlusspanel ging es um digitale Inhalte von Marken und Unternehmen. Inwiefern lässt sich überhaupt noch sauber zwischen Werbung und Journalismus trennen? Vorgestellt wurde MOIA, ein junges MobilitätsStartUp von VW, das einen Shuttle-on-demand-Dienst entwickelt, um „die Stadt den Menschen zurück zu geben“, so der Marke-Slogan zur neuen Mobilität. Die Agentur „Mann beißt Hund“ berichtet für Unternehmen über Wissenschaft, Bildung und Gesundheit und schätzt dabei vor allem die Interaktion mit dem Nutzer, um Inhalte besser auf deren Bedürfnisse auszurichten. „Territory“, wo u. a. das Lufthansa-Magazin entsteht, arbeitet als Tochterunternehmen von Gruner und Jahr bewusst mit Journalisten und nicht mit Agentur-Textern zusammen. Verschwimmen hier die Grenzen zwischen Journalismus und Unternehmenskommunikation noch mehr? Unabhängig von der Art Urheberschaft zähle am Ende einfach nur eine gute Geschichte, meint Dörte Spengler-Ahrens, Creative Director von Jung von Matt. Grundtenor des Podiums: Journalisten sollten sich stärker auf Vermittlung und Einordnung von Themen konzentrieren, um dem Nutzer Orientierung zwischen seriösen Nachrichten und FakeNews geben. Werber sollten relevante Themen und individuelle Bedürfnisse der Nutzer fokussieren.
Digitales Geocashing
Auch spielerische Ansätze fanden beim Kongress einen Platz. Medienkünstler Jan Dietrich präsentierte das Hamburger Projekt StreamCaching. 10 akustische Werke wurden mit GPS Koordinaten versehen und quer über die Stadt an 10 Orten verteilt. Das Publikum kann die Tracks mit dem Smartphone finden und direkt vor Ort erleben.
Fragen zum Weiterdiskutieren
Einige Fragen bleiben offen: Welche Rolle spielt zukünftig der Mangel an Beschränkung als Voraussetzung für Kreativität? Dies scheint durch digitale Technologien verloren zu gehen, es sei denn der Künstler erlegt sich die Beschränkung aus eigenen Stücken auf. Und: Wenn Künstliche Intelligenz heute schon so viel kann, was bleibt dann eigentlich noch für uns Menschen zu tun? Wo kann KI ganz konkret als kreativer Partner fungieren? Inwiefern gewinnen wir Menschen durch die selbstlernenden Systeme wieder mehr Freiraum und neue Möglichkeiten für unsere eigene kreativen Entfaltung?
Nicht jedes Thema konnte aufgrund der beschränkten Zeit erschöpfend geklärt werden. Doch wie es sich für eine gute Tagung gehört, wurden auch in den Pausengesprächen zwischen den Teilnehmern spannende Fragen diskutiert, die genügend Stoff für einen weiteren Kongress bieten:
1) Wo bleibt der Mensch unersetzlich? Wo kann der Mensch trotz KI vor punkten, mit welchen konkreten menschlichen Fähigkeiten?
2) Wieviel Überraschendes und Unerwartetes kann eine KI liefern? KIs machen Vorschläge auf der Basis von Datenhistorien. Wie lässt sich die berühmte Filterblase vermeiden? Sind Algorithmen in der Lage, mit neuen Vorschlägen bzw. Angeboten zu überraschen? Oder wollen wir Menschen im Grunde gar keine Vielfalt?
3) Warum ist es wichtig, dass wir Entscheidungswege der KI nachvollziehen können? Ein Problem bei den Lernenden Systemen ist ja, dass man häufig nicht nachvollziehen kann, wie die KI zu ihren Lösungen kommt.
4) Sollte sich der Mensch mit Blick auf KI-Konkurrenz zukünftig eher als Spezialist aufstellen oder möglichst vielfältig als Allrounder?
5) Welche Mehrwerte entstehen durch KI: a) Produzenten/Anwender b) Konsumenten
6) Wie realistisch ist die Prognose von Klaus Mainzer, TU München: „Es wird Rechner geben, die nach dem Vorbild natürlicher Nervensysteme gebaut werden … Anstatt mit Siliziumchips würden sie auf der Basis von Molekülen und Enzymen arbeiten und könnten in der Rechenkapazität und organischen Struktur ständig weiter lernen und wachsen.“ Zeitpunkt
7) Könnte sich KI irgendwann intrinsisch über ein „artifizielles Belohnungssystem“ motivieren und welche Folgen hätte das für uns Menschen?