© Michael Weisser

Neugierig denken: über künstlerisch-kreatives, non-lineares, assoziatives Denken

„neugierig:denken! Interviews & Dialoge“ – so heißt ein neues Buch des Medienkünstlers, Musikproduzenten und Science Fiction-Autors Michael Weisser. Er hat 44 Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik zum künstlerisch-kreativen, non-linearen, assoziativen Denken befragt, unter anderem auch mich. Über seine Motivation, über Erkenntnisse aus den Gesprächen und den Entstehungsprozess des Buches habe ich wiederum Michael Weisser befragt.

Idee zum Buch

AH: Mike, in Deinem neuen Buch „neugierig:denken! hinterfragst Du besondere Denkprozesse, Selbstwirksamkeit, inneren Antrieb und Visionen, also das, was Menschen durch ihr Wirken gesellschaftlich einbringen können und möchten. Wie ist die Idee entstanden, ein Buch über künstlerisch-kreatives Denken zu machen?

MW: Wenn man sich ein Leben lang mit „Kunst“ beschäftigt, dann taucht zwangsläufig immer wieder die selbstkritische Frage auf, was man eigentlich macht und warum man außerhalb der „normalen“ Berufswelt arbeitet. In letzter Zeit wird der Begriff „Kreativität“ zunehmend strapaziert. Die „Idee“ ist der neue Heilsbote, der die Probleme der Menschheit lösen kann – so glauben viele. Neue Ideen bringen technische Innovationen hervor, die der Wirtschaft neuen Profit versprechen. Also ist die Verbindung der beiden Begriffe „Kreativität“ und „Wirtschaft“ immer mehr in den Vordergrund geraten.

In diesem Zusammenhang wird immer stärker die inspirierende Kraft von Kunst in der Wirtschaft diskutiert. Diskussionsforen entstanden, viele Fachbücher wurden geschrieben, zahlreiche Galerien und Kunstvermittler suchen den Kontakt zu Unternehmen. Macht das Sinn? Da ich in meiner Arbeit die Medien Bild, Klang und Wort vernetze und dabei an? der Grenze von analoger und digitaler Datenverarbeitung tätig bin, interessiert mich dieser Trend, der in der Kunst und Wirtschaft neue Akzente setzt. Deshalb habe ich GesprächspartnerInnen gesucht.

Interviewpartner

AH: Wie hast Du Deine GesprächspartnerInnen ausgewählt?

MW: Zuerst habe ich mir viele Fachbücher gekauft. Einige der Autoren habe ich kontaktiert und erste Interviews geführt. Dann habe ich unter den Stichworten Kreativität + Wirtschaft + Kunst und Varianten davon recherchiert, mich jeweils um Hintergründe zu den Personen bemüht, eine Auswahl getroffen und diese Personen zum Interview eingeladen. Sehr wichtig war mir eine Vielfalt von Berufshintergründen und Ambitionen. So habe ich die großen Bereiche Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ebenso abdecken können wie die Arbeitsfelder Forschung, Lehre und Anwendung.

AH: Waren Deine Fragen in einem Fragebogen standardisiert?

MW: Es gab Kernfragen, die ich in abgewandelter Form an alle Beteiligten gerichtet habe. Im Wesentlichen aber habe ich ganz spezifisch für jede Person eigene Fragen entwickelt.

AH: An welche Zielgruppen richtet sich das Buch über neugieriges Denken? Wer soll es lesen und einen Erkenntnisgewinn erlangen?

MW: Eine konkrete Zielgruppe hatte ich nicht im Auge. Es sollte eine Sammlung von Interviews werden, die einerseits eine Quellen von Zeitzeugen sind, die aber andererseits auch unterhaltsam zu lesen sein sollten. Das Thema „neugierig Denken“ sehe ich als grundlegend wichtig, denn es ist der Ausgangspunkt für alle Entwicklungen in menschlicher Kultur und Zivilisation und damit auch für die weltprägenden Bereiche Kunst und Wissenschaft.

QR-HybridBuch

AH: Der Verlag Die|QR|Edition nennt Dein gedrucktes Buch ein QR-HybridBuch. Was ist darunter zu verstehen?

MW: Im Buch „neugierig:denken!“ sind gestaltete QR-Codes abgebildet, die zu Irritation, Information und Inspiration führen. Wer diese Codes mit dem Smartphone scannt, gelangt ins Internet und wird dort multimedial überrascht. Diese neue Möglichkeit der Vernetzung ist die Idee der kompletten Buchreihe dieser Edition, nämlich erstmals die analoge Welt des gedruckten Buches mit der digitalen Welt des Internet zu verbinden.

AH: Wie kam es zu dem überraschenden Begriff des neugierigen Denkens, der ja in der Einladung zum Projekt noch nicht angesprochen war? Anfangs ging es Dir um das künstlerisch-kreative, das non-lineare Denken, was hat sich dann geändert?

MW: Ich habe mir die Frage gestellt, was eigentlich hinter dem Begriff des „Kreativen“ steht und das ist für mich die Kraft der Neugier.

Kreativität

AH: Im Buch geht es immer wieder um das Thema kreatives Denken. Beim Übergang vom Industriezeitalter zur Wissens- und Informationsgesellschaft verändern sich unsere Wertvorstellungen: Immaterielle Ressourcen, wie Wissen und Kreativität, gewinnen an Bedeutung. Materielle Statussymbole verlieren vor allem bei jüngeren Menschen an Einfluss. Warum ist Kreativität gerade in diesen Umbruchzeiten wichtig und hilfreich?

MW: Jeder kann es! Ideen können von jedem zu jeder Zeit an jedem Ort geboren werden. Man kann die komplexesten Ideen allein im eigenen Kopf denken. Das macht die gedachte Idee und folgend das Konzept als Ergebnis von Kreativität so attraktiv und wertvoll. Die Bedeutung von Kreativität ist unbestritten. Sie ist Ausgangspunkt für Entwicklung und Verbesserung von Denken und Leben. Aber Kreativität ist nicht nur positiv. Sie verändert die Welt auch negativ, schafft bedrohliche Szenarien, unterdrückt, verwüstet und tötet. Aufgrund dieser Tatsache ist mir die Wertediskussion zu wenig entwickelt. Wer verändert hat Verantwortung!

AH: Ich gebe Dir vollkommen recht, man muss die Aspekte differenziert betrachten. Auch eine soziale Innovation ist nicht per se positiv. Sie kann sich auf eine bestimmte Zielgruppe vorteilhaft auswirken, für andere Adressaten können die Nachteile überwiegen. Neulich las ich, dass z. B. auch das Selbstmordattentat aus Sicht des Verursachers eine soziale Innovation bzw. eine kreative Erfindung ist, die aber zugleich katastrophale Auswirkungen hat. Es ist also unbedingt wichtig, eine Idee von verschiedenen Sichtachsen aus zu sehen und zu Ende zu denken.

In einer ständig komplizierter werdenden Welt ist also ein ganzheitlicher Blick dringend nötig. Was passiert z. B., wenn Kreativität nicht gefördert wird und verkümmert? In welchen Bereichen der Gesellschaft siehst Du gegenwärtig Handlungsbedarf für mehr Kreativität?

MW: Wenn wir Kreativität wollen, dann müssen wir sie fördern und zwar anhaltend und ausdrücklich. Kreativität und mit ihr Neugierde und Ausdauer zu fördern, ist erst einmal die Aufgabe von Eltern ihren Kindern gegenüber und der Gesellschaft den Schülern und Studenten gegenüber. Aber an welcher Schule oder Hochschule gibt es ein Fach, das sich dem wichtigsten Thema, nämlich der „kreativen Lebensgestaltung“ widmet? Wir lernen eine Unmenge an Fakten, aber nur wenige Methoden!

AH: Sprechen wir über die Grenzen der Kreativität: Seit Richard Florida (Buch: The Rise of the Creative Class) soll Kreativität alles richten – als Wundermittel gegen wirtschaftlichen Stillstand und soziales Unrecht, gegen Innovationsmüdigkeit und Motivationskrisen, im privatwirtschaftlichen Umfeld ebenso wie im öffentlichem Sektor. Wo siehst Du konkrete Anzeichen, dass Kreativität missbraucht wird?

MW: Kreativität ist eine generelle Methode, Energie in einer neuen Form zu entfalten. Aber sie bedarf einer Wertsetzung, warum und wie sie wirken soll. Das, was heute als „Kreativität“ bezeichnet wird, soll aber letztlich Produktivkräfte freisetzten, soll minimierend auf Kosten wirken, soll Prozesse und Wirkungen optimieren. Billiger produzieren, teurer verkaufen, das ist die Logik der Wirtschaft. Und ein Profit kann nur gewonnen werden, wenn ein Wert nicht verteilt, sondern wenn er abgeschöpft wird.

Den Missbrauch von Kreativität sehe ich in vielen Bereichen, aber dieser Missbrauch kann sich nur dort durchsetzen, wo er von Menschen gemacht und von Menschen akzeptiert wird. Das Problem ist weder die Kreativität noch der Missbrauch, sondern es sind immer die mit Worten und Taten zustimmenden Menschen.

AH: Kreativität ist ein „unberechenbares Gewächs“. Du selbst sprichst in diesem Zusammenhang von non-linearem Denken. Wie kann man Menschen – vor allem in der effizienzgetriebenen Wirtschaft – die Angst vor Überraschungen, vor unkontrollierbaren Auswirkungen von Kreativität nehmen und vermitteln, dass gerade das Entdecken des „Ungesuchten“ eine große Chance sein kann?

Angst und Freiheit

MW: Die Angst vor Neuem ist die generelle Angst vor Veränderung. Angst kann man nicht nehmen, sie wurde anerzogen, sie wird vom Umfeld gelebt, sie ist Teil einer jeden Erfahrung. Angst ist stammesgeschichtlich gesehen eine Strategie des Überlebens. Wäre ich ohne Angst würde ich ins Feuer springen, weil es so schön lodert. Also muss man in Vorsicht das Neue erproben. Neugierig zu sein ist eine wichtige Qualität.

AH: Unsere Gesellschaft befindet sich in einem permanenten Wettstreit zwischen Freiheit und Regulierung – politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell. Die Kreativität steht mitten in diesem Spannungsverhältnis. Wofür plädierst Du persönlich: für Freiheit und Selbstverantwortung oder für mehr Regulierung zugunsten der Sicherheit?

MW: Ich setze in erster Linie auf Freiheit. Allerdings: Freiheit sehe ich nicht als Blankoschein für Egozentrik, sondern als Einsicht in die Notwendigkeit, im sozialen Kontext mit Anderen zu sein.

AH: Welche Art von Bildung wäre in Deinen Augen am besten geeignet, um Kreativität zu fördern. Muss es weiterhin einen bestimmten Bildungskanon geben? Oder sollte man komplett auf die Eigenmotivation von Heranwachsenden setzen, auf eigenverantwortete Projekte und auf Selbstwirksamkeit, wie Erwin Wagendorfer es in seinem Film „alphabet“ zeigt.

MW: Die Ausbildung von Verhalten und Werten entwickelt sich im gesellschaftlichen Kontext und nicht im Vakuum! Deshalb braucht die Ausprägung von Eigenmotivation ein Vorleben, es braucht Beispiele und Vorbilder, es braucht Anregung und Bestätigung, es braucht den Aufbau von Mut und Vertrauen und dies immer bei allen (!) Beteiligten. Gesellschaftliches Miteinander funktioniert nur durch Verabredung, durch Rituale, durch Sitten und Gesetze – früher nannte man das „Erziehung“, heute nennt man es einen „Bildungskanon“.

AH: Kreativität erfährt in der Schule meist keine Würdigung. Denken außerhalb der Norm ist nicht erwünscht. Die Schüler sollen Antworten geben und keine Fragen stellen. Gibt es realisierbare Ansätze, um mehr Kreativität in unser Bildungssystem zu bringen?

MW: Es stellt sich die Frage, wer die Curricula unter welchen Werten mit welchem Ziel entwickelt. Wenn die Werte darin liegen, dass mit jedem Auszubildenden schnellstmöglich ein flexibles, sich anpassendes Mitglied im Produktionsprozess entsteht, dann werden die Inhalte andere sein als wenn man den Wert der Gesellschaft in motivierten, empathischen, kreativen, gebildeten, selbst-kritischen Menschen sieht.

Entstehungsprozess des Buches

AH: Wie lange hast Du an dem Buch zum kreativen Denken gearbeitet?

MW: Es waren rund 8 Monate, die ich an dem Projekt gearbeitet habe. Jeder Tag war geteilt in 4 Stunden für das Buch und in etwa 5 Stunden für andere Projekte. Insgesamt waren es rund 640 Stunden für 108 Interviewpartner und 1562 Mails verfasste Mails. Dazu kommt noch die Bildwelt und die exklusiven i:Codes samt den Internetangeboten ;-)))

AH: Was mich als Medienproduzentin und Verlegerin interessiert: Ist es überhaupt möglich, diesen Aufwand zu refinanzieren?

MW: Die entscheidende Frage ist, was man unter „Refinanzierung“ versteht. Geht es um Geld als Äquivalent für Arbeitszeit und Erstattung von Kosten? Geht es um einen Verdienst, mit dem die laufenden Lebenskosten bezahlt werden können, mit dem etwas Luxus möglich ist, mit neue Projekte finanziert werden und von dem man etwas für den Notfall und das Alter sparen kann?

Wirklich interessant ist für mich an dieser Stelle des Widerspruchs zwischen Aufwand und Ertrag ein anderes Argument, das eine wundersame Facette der „Kunst“ ausleuchtet. Kunst ist ein Ort des Denkens und Handelns, der in anerkannter Weise irrational sein kann. Kunst kann unter dieser Sicht sogar ausdrücklich gegen jede Wirtschaftlichkeit leben – das darf nur nicht immer so sein! Im Business des Verlegers ist eine höhere Ausgabe als Einnahme allerdings ein ruinöses Desaster.

AH: Ich möchte abschließend nochmals auf den aktuellen Wandlungsprozess zurückkommen: Unsere Industriegesellschaft wird nach und nach von einer postmaterialistischen Wissens- und Informationsgesellschaft abgelöst. Was verbindest Du mit dem Begriff des Immateriellen? Welchen Wert hat das Immaterielle für Dich persönlich?

MW: Ich bestreite, dass unsere Welt wirklich in diesem Wandel vom Materiellen zum Immateriellen ist. Sie tut lediglich so, denn sie lebt zunehmend von Schein, Täuschung und Lüge. Im Materiellen wird die Erfüllung suggeriert, aber dort liegt sie nicht. Materielles erzeugt die Sucht nach immer mehr, weil wir spüren, dass das Defizit in uns trotz des Geldes bleibt. Wirklich befriedigend und daher „wert-voll“ ist das Gefühl der Erfüllung, des sinnhaften Handelns, des sich Ausdrückens, der Wertschätzung und des Gebrauchtwerdens. Bei dem Erlebnis dieser Werte spielen Kunst und gelebte Kreativität eine große Rolle. “neugierig:denken!“ ist so ein Erlebnis, das neue Kontakte, interessante Gespräche und belebende Ideen freisetzt.

Michael Weisser: „neugierig:denken! Interviews & Dialoge“, erschienen  im Verlag Die|QR|Edition in Murnau am Staffelsee: www.dieQREdition.pmachinery.de

Bereits im November 2015 habe ich mit Michael Weisser für MassivKreativ ein erstes Interview geführt – über seine Medienkunst und den QR-Code.

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