Warum immaterielle Werte wichtiger werden
Beim Übergang vom Industriezeitalter zur Wissens- und Ideengesellschaft verändern sich unsere Wertvorstellungen. Statussymbole verlieren an Einfluss zugunsten ideeller Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. Unsere Einstellung zu Arbeit und Freizeit, zu Konsum und Lifestyle, Lebenssinn und Gemeinschaft hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt, nicht erst in der Generationen Y und der Millennials und umso mehr seit Corona.
Schon 2002 erklärte der Wirtschaftswissenschaftler Richard Florida das „kreative Ethos“ zum Motor für unsere Zukunft: „Das kreative Ethos durchdringt alles: von unserer Arbeitskultur bis zu unseren Werten und Gemeinschaften, es verändert den Blick auf uns selbst als wirtschaftliche und soziale Akteure. Es formt den Kern unserer wahren Identität. Es reflektiert Normen und Werte, was beides die Kreativität nährt und ihre Rolle stärkt.“ (Florida 2012, S. 16)
Was sind immaterielle Werte?
Kreativität ist materiell nicht fassbar und primär nicht messbar. Ein Problem in unserer Zeit, in der alles quantifiziert werden soll. Und doch spüren wir die Wirkung immaterieller Werte, neudeutsch „Impact“ genannt. Albert Einstein bemerkte ganz richtig: „Nicht alles, was zählt, kann man zählen, und nicht alles, was man zählen kann, zählt.“
Der Erfolg von Unternehmen basiert heute nicht allein auf Kapital und Produktionsanlagen, sondern auf immateriellen Werten: auf Marken, Kunden- und Geschäftsbeziehungen, auf Patenten und dem Wissen der Mitarbeiter, auf Ideen und Innovationskraft und vor allem auf der Unternehmenskultur. Das Bewusstsein für diese Werte wächst, gerade in Umbruchzeiten.
Ökonomie ohne Zahlen
Viele unterschätzen, dass die Wirtschaft tief in der Kultur verwurzelt ist. Der Prager Ökonom Tomás Sedlácek, der u. a. Berater des tschechischen Präsidenten Václav Havel war, beschreibt dies eindringlich in seinem Sachbuch: Die Ökonomie von Gut und Böse. Sedlácek hat eine Kulturgeschichte der Ökonomie geschrieben, die erstaunlicherweise fast ohne Zahlen auskommt. Er stellt die Beschränkung auf mathematisch-analytische Kriterien in der modernen Volkswirtschaftslehre infrage und rückt rückt dafür eher immaterielle Werte und Narrative in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen: weniger Prognosen und Gleichungen, dafür mehr kulturphilosophische Überlegungen. Sedlácek schreibt: „„In den letzten Jahren hat die Mainstream-Ökonomie ursprüngliche ökonomische Themen wie Ethik und Moral aufgegeben… Wir haben den Fokus der Wissenschaft verändert – oder extrem stark verschoben –, und zwar nur, weil wir begonnen haben, eine neue Sprache zu benutzen. Kurz gesagt: Die Ökonomie hat zu viel Gewicht auf das Mathematische gelegt und das nicht mathematische Menschliche in uns vernachlässigt.“ (S. 370)
In einem Interview plädiert Sedlácek für permanente Reflexion, ggf. auch für einen Haltepunkt inkl. Korrektur: „Es gab übrigens antike Hochkulturen wie die der Hebräer, die sich immer nach 49 Jahren ein soziales Reset verordnet haben; zurück auf null, man gab seine Ländereien zurück, Schulden wurden erlassen, Sklaven in die Freiheit entlassen. Eine systemische Desystematisierung war das. Der Absturz der Finanzwirtschaft hat sich leider völlig unvorhergesehen vollzogen. In Zukunft müssen wir wenigstens dafür Sorge tragen, dass sich solche Abstürze sozial verträglicher gestalten.“ (Quelle) Tomás Sedlácek ist mit seinem Denkansatz inzwischen auch beim Wirtschaftsforum in Davos gefragt, hoffentlich ein Zeichen dafür, dass der Trend langsam weg von der Quantifizierbarkeit und hin zu qualitativen Werten geht.
Narrative
Schon Platon sagte: „Der Geist überwindet den Gegenstand“. Mit Narrativen können wir gedanklich simulieren, wie wir künftig leben wollen, was also in Zukunft möglich sein könnte. Wem es heute gelingt, Zukunftsperspektiven in verständliche Geschichten zu verpacken und weitererzählen, genießt Wertschätzung und Anerkennung. Wer es schafft, Sehnsüchte zu wecken, kann Menschen um sich versammeln, sie ermutigen und zum Engagement motivieren! Nicht Zahlen, sondern Geschichten verleihen uns Flügel, in kleinen Projekten und großen Prozessen. Politik und Wirtschaft können von der Kraft kultureller Narrative und immaterieller Werte enorm profitieren.
In diesem Sinne spornte John F. Kennedy 1961 eine ganze Nation an, „Wir haben uns entschlossen, einen Menschen zum Mond zu schicken und ihn wieder sicher zur Erde zurück zu bringen.“ (Kennedy 1961).“ Eine klare Botschaft, eine Geschichte mit einem Ziel, das Vorfreude auf die Zukunft weckt. „Geschichten sind das stärkste Medium der Menschheitsgeschichte“ (Welzer 2016), bestätigt der Soziologe Harald Welzer.
Unternehmenskultur
Ohne Kulturwandel lässt sich die digitale Transformation nicht vollziehen. Unternehmen, die Innovationen nicht nur herbeireden sondern schaffen, heuern neben dem Geschäftsführer, dem „Chief Executive Officer“, den „Chief Culture Officer“ (vgl. McCracken 2011) an, der die Unternehmenskultur stetig weiterentwickelt und dafür sorgt, dass Mitarbeiter ihre Kreativität je nach Neigungen und Potenzial entfalten können. Geht es dem Geschäftsführer in erster Linie um Quantität, hat der Chef der Kulturentwicklung auch die Qualität im Blick, Effektivität statt Effizienz.
Welchen immateriellen Wert hat die Elbphilharmonie?
Politiker und Wirtschaftsakteure der Hansestadt Hamburg z. B. propagieren längst einhellig, dass sich die Elbphilharmonie zwar nie rechnen, aber doch immer rentieren werde. Intendant Christoph Lieben-Seuther schwärmte zur Eröffnung des Konzerthauses: „Die Elbphilharmonie ist unbezahlbar, weil sie eine Wirkung für Hamburg und darüber hinaus hat, die nachhaltig sein und viele Jahre anhalten wird. Deswegen ist verglichen damit jede finanzielle Kalkulation irrelevant.“ (Lieben-Seuther 2017, S. 9)
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Kopf schlägt Kapital
Materielle Vorräte sind begrenzt. Durch Raubbau an unserer Natur werden Rohstoffe zunehmend aufgebraucht. Immaterielle Ressourcen hingegen können nicht zur Neige gehen. Sie sind unerschöpflich, extrem flexibel, wandelbar, beweglich, schnell. Um rasch auf Veränderungen reagieren zu können, setzt die Wirtschaft zunehmend auf agile Prozesse statt auf langfristige Planungen. Zukünftig wird es immer weniger Produkte und dafür mehr Dienstleistungen geben. An sich ständig wandelnde Kundenwünsche lassen sich immaterielle Service-Ideen rascher anpassen als materielle Produkte.
Der Geist kann leichter auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren als der Körper. Wer dauerhaft in seine Bildung investiert und sich im Sinne des lebenslangen Lernens neues Wissen aneignet, wird auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen haben als derjenige, der sein Geld alle drei Jahre in das neueste Computermodell steckt. Wer sich beharrlich neue Erkenntnisse aneignet, kann Zusammenhänge in der Welt besser verstehen und ist weniger anfällig für Überforderung und Überlastung. Nach Corona sollten Politiker und Wirtschaftsakteure jetzt stärker auf diese Erkenntnisse setzen, nach dem Motto „Kopf schlägt Kapital“ des Unternehmensgründungsexperten Günter Faltin.