Wir sind Kultur: Alltagskultur und unser immaterielles Kulturerbe
Unsere Welt ist global und virtuell geworden. Doch digitale Erlebnisräume können echte, reale Erfahrungen in einer Gemeinschaft nicht ersetzen. Ohne sie wird unser Leben schnell öde und sinnentleert. Weltweit wird nun nach „lebendigen“ kulturellen Praktiken und Ausdrucksformen gesucht, nach Alltagskultur und gemeinschaftlichen Erlebnissen, unserem „immateriellen Kulturerbe“. Es zeigt auf vielfältige Weise „Wir sind Kultur!“
Traditionelles Wissen weitergeben
Die Sicherheiten in unserem Leben schwinden. Was gestern innovativ war, ist heute veraltet. Was morgen kommt, ist nicht vorhersehbar. In einer Welt voller Ungewissheiten suchen wir nach Bodenhaftung und Stabilität, nach Gemeinschaft und Selbstvergewisserung. Doch unsere Gesellschaft ist technikverliebt. Nichttechnologische Ideen und handgemachte Leistungen werden unterschätzt. Traditionelles Wissen gerät aus dem Blickfeld. Kreative Leistungen und Konzeptideen werden selten vergütet, aber umso häufiger ohne Erlaubnis und schlechtes Gewissen kopiert. Soziales und ehrenamtliches Engagement wird gern gesehen, aber zu wenig wertgeschätzt (siehe weiter unten Citizen Science).
© Sylvia-Verena Michel, Pixelio
UNESCO-Siegel „Immaterielles Kulturerbe“ für das jährliche friesische Biikebrennen am 21. Februar
Initiative der UNESCO
Zur gesellschaftlichen Bewusstseinsförderung hat die UNESCO 2003 das Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes (IKE) verabschiedet. Die Konvention soll dazu beitragen, das weltweit vorhandene traditionelle Wissen und Können zu erhalten. Mehr als 160 Staaten sind der Konvention inzwischen beigetreten. Bereits 1982 heißt es in der Deklaration der UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexico City: „Kultur kann in ihrem weitesten Sinn als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen.“
Im bundesdeutschen Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes stehen derzeit 144 Einträge (Stand: Frühjahr 2023) und zahlreiche Erhaltungsprogramme. Darüber hinaus zeichnen 128 Kulturformen ein vielfältiges Bild des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland. 16 Gute Praxis-Beispiele zeigen modellhaft, wie Immaterielles Kulturerbes erfolgreich und innovativ erhalten werden kann.
Bewerbungs- und Aufnahmeverfahren
Jedes Jahr kommen weitere Kulturformen hinzu, so wird das Verzeichnis stetig wachsen und die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen in und aus Deutschland sichtbar machen. Verschiedene staatliche Akteure der jeweiligen Bundesländer und die Deutsche UNESCO-Kommission entscheiden in einem mehrstufigen Verfahren über neue eingereichte Anträge. Sie zeigen unseren Alltag in allen Facetten, z. B. das Hebammenhandwerk, das Mecklenburger Tonnenabschlagen, die Alltagskultur im Hamburger Stadtteil St. Pauli und die deutsche Friedhofskultur.
© MassivKreativ.de
Ergänzung zum materiellen Weltkulturerbe
Im englischen Sprachraum ist das „immaterielle Kulturerbe“ weniger sperrig. Hier heißt es „intangible cultural heritage“ = „unberührbares Kulturerbe“. Ergänzend zum „berührbaren“ bzw. „materiellen“ Kulturerbe, wie z. B. den Bauwerken Kölner Dom, den Pyramiden und dem Tadsch Mahal, geht es der UNESCO auch um nichtmaterielle Leistungen. In die deutsche Liste schafften es bis 2015 u. a. die Brotkultur, das Morsen und Reetdachdecken, der rheinische Karneval, das friesische Biikebrennen sowie sorbische Feste und Bräuche, Falknerei, Singen im Amateurchor und moderner Ausdruckstanz.
Im März 2015 hatte Deutschland seine erste Nominierung für das internationale Verzeichnis der UNESCO eingereicht, für die sogenannte Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit: die Idee und Praxis der Genossenschaft. Gewürdigt werden alle Facetten des gemeinschaftlichen, demokratischen Entscheidens und Zusammenlebens, von denen es hierzulande vielfältige Beispiele gibt: Wohnungsbau- und Konsumgenossenschaften (z. B. REWE), Medien (z. B. taz), Bankgenossenschaften (z. B. Raiffeisen), Handwerker-, Land- und Forstwirtschaftsgenossenschaften, Energieversorger (Greenpeace energy), Krankenhäuser, Kulturzentren, Künstler- und Schülergenossenschaften.
Deutschland ist aktuell an sieben erfolgreichen Einschreibungen in die internationale UNESCO-Listen beteiligt. Drei Einträge hat Deutschland auf eigene Initiative eingebracht: die Genossenschaftsidee,
Orgelbau und Orgelmusik sowie die Praxis des modernen Tanzes. Vier weitere Einträge sind
multinational, d. h. gemeinsam mit anderen Staaten eingereicht worden: Bauhüttenwesen, Blaudruck,
Falknerei und Flößerei.
Spiegelbild unserer Kultur
Die UNESCO möchte langfristig und nachhaltig unterschiedliche kulturelle Praktiken und Ausdrucksformen schützen: Traditionen, Rituale, Darstellungen, Wissen und Fertigkeiten. Um das begehrte UNESCO-Siegel können sich Musik- und Gesangsformen bewerben, Erzählungen und Dialekte, Tänze und Feste, Wein- und Gartenkultur, traditionelle Heilmethoden, Bau- und Handwerkstechniken sowie Gemeinschaften, die sich für die Verbindung von Kulturtraditionen und Natur engagieren. Ein konkreter Appell gegen Ignoranz und Vergessen ist darüber hinaus die „Liste des dringend erhaltungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes“. Über Ziele und Sinn der UNESCO-Initiative sowie über das Siegel habe ich mit Benjamin Hanke gesprochen, Referent für das immateriellen Kulturerbe bei der Deutschen UNESCO-Kommission.
Traditionen und Werte als Lebenselixier
Warum brauchen wir überhaupt noch Traditionen und entsprechende Praktiken? Welchen Nutzen haben sie für uns? Während Bauwerke restauriert und konserviert werden, muss Immaterielles Kulturerbe lebendig bleiben und sich wandeln. Es wird von Gemeinschaften in sozialer Balance geschaffen. Sie sind Labore für eine zukunftsfähige Gesellschaft und für gemeinschaftliches, nachhaltiges Handeln! In einem Mikrokosmos leben die Akteure vor, was unseren Alltag lebenswert macht: Teilhabe, Geborgenheit, Sinnstiftung, Identität, Wertschätzung, Würde, Vertrauen, Empathie, Kommunikation, Austausch, Gemeinsinn, Selbstbestimmung, Hilfsbereitschaft, Engagement, Kontinuität, Motivation, Freude, Lebendigkeit, Vielfalt, Toleranz, Entfaltung und Entwicklung.
Identität und Kontinuität
Die Trägergemeinschaften, die immaterielles Kulturerbe schaffen, sind Treibhäuser für das WIR-Gefühl. Es sind zugleich Lern-, Erfahrungs- und Erlebnisorte sowie Erkenntnis-Labore für die aktuellen Herausforderungen. Es geht um grundlegende gesellschaftliche Fragestellungen: Welche Wurzeln haben wir? Welche Identität-(en) tragen wir in uns? Was prägt uns? Welche Werte sind uns wichtig? Welches Wissen möchten wir weitergeben?
Bürger schaffen Wissen: Citizen Science
Engagierte Bürger leisten als forschende Laien einen enormen Beitrag für unsere Gesellschaft. In Geschichtswerkstätten, Wissenschaftsläden, in Vereinen und Trägergruppen, sorgen Sie für die Aufarbeitung und Weitergabe von Wissen, um das sich die staatlich finanzierte Profi-Wissenschaft nicht kümmert. Mit hoher intrinsischer Motivation investieren Laien enorm viel Zeit und Herzblut, um beispielsweise Vögel in ihrer Region zu zählen, Pflanzen der Umgebung zu bestimmen, die Geschichte des eigenen Stadtteils zu recherchieren, Zeitzeugen zu befragen und der nächsten Generation das erworbene Wissen zu vermitteln und weiterzugeben. Citizen Science zeigt vorbildhaft, wie lebenslanges Lernen schon heute Zwang oder Einwirkung von außen mit großer Wirkung erfolgreich praktiziert wird. Die Plattform Bürger schaffen Wissen zeigt ausgewählte Beispiele, wobei naturwissenschaftliche Projekte die Plattform zu Unrecht dominieren. Hier müssten die vielen kulturellen und geisteswissenschaftlichen Bürgerprojekte in Deutschland dringend nachgetragen werden!
© Rainer Sturm, Pixelio
UNESCO-Siegel „Immaterielles Kulturerbe“ für die deutsche Brotkultur und das Bäckerhandwerk
UNESCO-Bewerbungsverfahren
Damit eine Bewerbung für die Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland erfolgreich verläuft, müssen konkrete Kriterien erfüllt werden. Der Antragsteller muss Mitglied einer sogenannten Trägergemeinschaft sein, die das Kulturerbe aktiv ausübt. Nur im fruchtbaren Klima gegenseitiger Wertschätzung können Ideen wachsen und gedeihen. Mit viel Zeit, Konzentration und Ausdauer perfektionieren die Akteure Fähigkeiten und Können. Mit Sachverstand und Leidenschaft geben sie ihr besonderes Wissen an neue Akteure weiter. Sie inspirieren einander, sorgen dafür, dass die Ausdrucksformen von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Erbe lebt von den Menschen, die es stetig neu gestalten und auch weiterentwickeln. In der Schweiz ist daher die Formulierung „lebendiges Erbe“ verbreitet.
© Dundu.eu
Innovation: Kulturerbe 4.0
Der Puppenbauer Tobias Husemann hat besonders eindrucksvoll beweisen, wie z. B. eine uralte Handwerkstechnik, das Flechten, mit Innovationskraft in die Gegenwart und Zukunft geführt werden kann. DUNDU heißen seine Großpuppen, bis zu fünf Meter groß, mit denen er bei spektakulären Auftritten weltweit die Herzen der Menschen verzaubert. ie mechanischen Gliederpuppen werden von mehreren Spielern geführt und bewegt. Mit ausgefeilter Technik sorgen sie dafür, dass im Auge der Betrachter die perfekte Illusion menschlicher Bewegungen entsteht. Die Puppen entstehen aus der Kunst des Flechtens, die auf der ganzen Welt verbreitet ist. Dundu bestehen aus einem besonderen (HighTech-)Geflecht, einem „Stoff, aus dem die Träume sind“, hat Erfinder Tobias Husemann in einem Interview gesagt (Quelle). Beim Flechten werden Materialien miteinander verbunden, um eine stabile Struktur zu schaffen. Über Generationen wurden unterschiedliche Flechttechniken überliefert, verfeinert und weiterentwickelt. Verbunden mit der Musik von Stefan Charisius, der auf der 21saitigen Stegharfe Kora aus Westafrika spielt, mit Licht- und Spezialeffekten sowie den Dundu-Großpuppen auf der Bühne entstehen unvergessliche Erlebnisse.
Vielfalt
Die Trägergemeinschaften von immateriellem Kulturerbe müssen allen Menschen offen stehen. Sie sind Symbol dafür, dass „Wir. Echt. Bunt“ sind und unser immaterielles Kulturerbe unsere „gemeinsame Sache“ ist. Der freie Zugang zur kulturellen Tradition ist wesentlich – ungeachtet von Alter, Herkunft, Religion und Weltanschauung. In den Trägergemeinschaften sollen sich Generationen und Geschlechter, Minderheiten und Benachteiligte, Kulturen und Religionen mischen.
Das Schützenwesen wurde zunächst NICHT in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen, weil es die christliche Tradition überbetonte und einem Bürger muslimischen Glaubens die Teilhabe verweigerte. Inzwischen wurde diese Entscheidung von den Schützen korrigiert und die Zusage für das Siegel von der UNESCO im zweiten Durchgang doch noch vergeben. Ausgrenzung und andere Verstöße gegen internationale Menschenrechtsübereinkünfte werden nicht geduldet.
Längst bereichern auch migrantische und transkulturelle Einflüsse das Alltagsleben in Deutschland. Sie bringen neue Impulse in die Diskussion um Heimat, Vertreibung und den Umgang mit der Natur. Das deutsche Verzeichnis soll nicht nur „deutsches“ Kulturerbe abbilden, sondern möglichst vielfältige Identitäten, Wissens- und Ausdrucksformen in unserem Land.
© MassivKreativ, Antje Hinz: Auch die Feste und Bräuche der Sorben im Spreewald wurden in die UNESCO-Liste aufgenommen.
© MassivKreativ, Björn Kempcke: 360-Grad-Ansicht des Spreewaldortes Lehde mit Freilichtmuseum (dafür direkt auf das Foto klicken)
Qualitätssiegel und Inwertsetzung: Fluch oder Segen
Städte und Gemeinden buhlen überall um zahlungskräftige Touristen. „Regiobranding“ ist in aller Munde. Städtische Akteure, lokale Verbände, Vereine und Initiativen suchen eifrig nach Wegen, um Heimat „in Werte“ zu setzen. Und so wird immaterielles Kulturerbe auch zum Standortfaktor. Die UNESCO verleiht an erfolgreiche Bewerber für die Liste ein Siegel, mit dem sie für nicht-kommerzielle Zwecke werben dürfen.
Offene Fragen
Die UNESCO ist sich der Gefahren bewusst und bleibt mit den Trägergemeinschaften im Gespräch. Sie wird aufmerksam beobachten, wer vom Siegel profitiert. Sollte es tatsächlich zu Kommerzialisierung und Massentourismus führen, zu Romantisierung und Qualitätsverlust, wird das Siegel auch wieder aberkannt, so die klare Ankündigung. Die Entscheidung könnte im Ernstfall schwer fallen, denn die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz, Kitsch und Kultur sind fließend. Die Praxis wird zeigen, ob die Trägergemeinschaften mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement unabhängig und selbstbestimmt bleiben können.
Quellen und Inspirationstipps:
- Themensammlung Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission
- Literatursammlung der Initiative „ICMP – Intangible Cultural Heritage & Museums Project“
In Planung in Kooperation mit der Deutschen UNESCO-Kommission:
Wanderausstellung „Gemeinsame Sache: Unser Immaterielles Kulturerbe“
Inhaltliche Konzeption: Antje Hinz, MassivKreativ, Labor für gesellschaftliche Wertschöpfung
Szenografie: Sven Klomp, Impuls-Design
Projektleitung: Annette Hasselmann, Impuls-Design