WirvsVirus-Hackathon: Kokreative Ideen gegen Corona
Die Coronavirus-Erkrankung COVID-19 hat viele Menschen zunächst ohnmächtig gemacht. Einige haben ihre Ratlosigkeit rasch in Engagement umgewandelt: in Online-Kampagnen, Online-Seminare, Online-Konferenzen und Ideen, wie z. B. einen grenzenlosen Online-Hackathon. Im bis dahin beispiellosen Nachdenk-Marathon #WirVsVirus wurden vielversprechende Lösungsansätze in der Krise gefunden.
Initialzündung
Die Idee für den Hackathon #WirVsVirus soll innerhalb von einer Woche entstanden sein, erzählt Anna Huppert von Tech4Germany in der virtuellen Pressekonferenz am Sonntag, d. 22. März 2020. Gegen 15 Uhr versammeln sich 40 Journalisten zu einer Videokonferenz und lauschen den Berichten der Organisatoren: Tech4Germany, Code for Germany, Impact Hub Berlin, ProjectTogether, SEND e.V., Initiative D21, Prototype Fund.
Das Wissen der Vielen
Vom 20.-22. März, während Virologen von einem Beratungstermin zum nächsten hetzen, Politiker unter Hochdruck über Ausgangsbeschränkungen beraten, Notfall- und Hilfsprogrammen schmieden, brüten zeitgleich unzählige hochmotivierte Bürger der Zivilgesellschaft gemeinsam mit Mitarbeitern aus Bundesministerien an Herausforderungen der Corona-Krise. Insgesamt 27.000 Menschen, darunter viele Kreativakteure nicht nur aus Deutschland, suchen nach Lösungen in 15 verschiedenen Handlungsfeldern – quer durch alle Generationen und mit verschiedenen persönlichen und fachlichen Hintergründen. „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.“ Das Zitat von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, dem Vordenker der Genossenschaftsidee, wurde an diesem Wochenende Realität. Zum Beispiel mit der Projektidee small business hero. Bei Hackathon entworfen wurde ein Prototyp für ein digitales Schaufenster, mit denen man beliebig Stadtteile und Produkte foltern kann. Alle beteiligten Ladenbesitzer sollen dabei durch ein Genossenschaftsmodell profitieren.
© #WirvsVirus
Alles virtuell im Netz
Normalerweise sind Hackathons Live-Wettbewerbe, an denen vor allem Computerfreaks zusammen mit weiteren kreativen Köpfen technologische Lösungen und Software-Tools für ein bestimmtes Problem entwickeln und programmieren – innerhalb einer begrenzten Zeit. Doch wegen der Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus ist ein direkter persönlicher Kontakt nicht möglich. Der Austausch kann daher nur digital stattfinden. Und das ist anfangs gar nicht so leicht, denn die Bundesregierung als Organisator hatte – ebenso wie die mitveranstaltenden Digitalinitiativen – mit nur 2000 Teilnehmern gerechnet. Als sich mehr als 10 Mal so viele online einloggen wollten, brach zunächst der Server zusammen.
Digitales Designen
Nachdem die technischen Probleme am Freitagabend überwunden sind, stürzen sich die Teams online in den Ideendialog. Über den Messenger Slack finden sich die hochmotivierten Ideengeber zusammen: 1924 Ideenstifter führen die Organisatoren auf und 2922 Mentoren, die die Projekte begleiten. Sowohl schriftlich als auch verbal im Chat können die Teilnehmer zeitgleich ihre Vorschläge teilen und diskutieren. Alle Nachrichten erscheinen in Echtzeit. Dokumente und Dateien können von allen Nutzern geteilt, Ideen aufgeschrieben, von anderen geprüft, verändert, modifiziert und weitergegeben werden. Ein Designprozess, der analoge Ideen und digitale Tools zusammenbringt. Suchfunktionen erleichtern es, Inhalte nach Stichworten zu suchen. Bei der Masse an Teilnehmern ist das auch dringend nötig.
Weltrekord
42.968 Teilnehmer hatten sich bis Freitag angemeldet, etwa zwei Drittel steigen dann in den aktiven Prozess ein und halten bis zum Ende durch. Einige schlagen sich sogar die beiden Nächte um die Ohren, vernachlässigen Nahrungsaufnahme und Körperpflege, beflügelt von der Kraft der Vielen, wie in der virtuellen Pressekonferenz berichtet wird. Der Rekord des bis dahin weltgrößten Hackathons von 2019 auf der russischen Messe „Kazan Expo“ wird locker übertrumpft. Die Initiative der Guinnessworldrecords meldete damals 3.245 Teilnehmer innerhalb von 48 Stunden. #WirVsVirus erreicht einen neuen Weltrekord. Die Bundesregierung ist beeindruckt, allen voran der Schirmherr, Kanzleramtsminister Helge Braun. Digitalministerin Dorothee Bär übermittelt ebenfalls ihren Dank und nutzt in der virtuellen Pressekonferenz – wohl aus Mangel eines eigenen Google-Account (aus Datenschutzgründen?) – den Zugang ihrer Tochter Emilia.
1500 Projektideen
Bereits im Vorfeld hatten etwa 200 Mitarbeiter aus Ministerien und unzählige TeilnehmerInnen Fragen und Herausforderungen eingereicht. Die Vorschläge wurden in Themenbereiche sortiert und die Teilnehmer nach selbst formulierten Fähigkeiten und Interessen konkreten Projekten zugeordnet. 1500 Projektideen und Anwendungen tüfteln Akteure – zum Teil zeitgleich in mehreren Gruppen parallel – im Verlauf des Wochenendes aus. Wissenschaftler haben den Hackathon begleitet und werden ihn im Nachhinein noch weiter auswerten. Organisatoren, Politiker und Experten hatten am Ende die schwierige Aufgabe, die entwickelten Prototypen zu den Projektideen zu sortieren und zu bewerten. Als Grundlage dienten Videos, die die Hackathon-Akteure am Wochenende bzw. kurz danach von ihren Projekten produzieren sollten. Zwei Projekte, die unter die besten 20 kamen:
„Call versus Corona“ will Menschen ohne Internet mit einem „Low Tech-Ansatz“ erreichen, und zwar über eine interaktive Sprachdialog-Technologie. 80% haben auch in Afrika ein Smartphone. So können auch dort Menschen kostenlos informiert werden, um Ansteckungen vorzubeugen. Push-Up Nachrichten werden aufs Handy geschickt, die per Klick zu den kostenlosen Anrufe und Audio-Infos. Das Projekt “Videobesuch“ bietet Senioren in Pflegeheimen die Möglichkeit, Videobesuchstermin zu buchen, das Pflegepersonal stellt das Tablet auf, per Einladungslink können z. B. auch Enkel dazu geschaltet werden.
Von der Theorie in die Praxis
Die Jury wählte 20 Projekte nach den besten Erfolgsaussichten gegen die Herausforderungen der Corona-Krise aus, sie werden nun gezielt weiterentwickelt. Schade, dass weder ein digitales Bildungs- noch ein Kulturprojekt in die „best of 20“ aufgenommen wurden, dabei sind beide Bereiche gerade in Krisenzeiten absolut systemrelevant! Kleiner Hoffnungsschimmer: Parallel zu den bereits ausgewählten Projekten können sich befristet noch weitere Akteure mit ihren Ideen bewerben und an Lösungen mitarbeiten. Dazu die Organisatoren: „Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, finanzielle Preise am Ende des Hackathons zu vergeben, aber wir werden so viele Projekte (besonders die von der Jury ausgewählten) so gut wie möglich dabei unterstützen, weiter an der ihrer Lösungsidee zu arbeiten. Wir bewerten alle Einreichungen nach den folgenden Kriterien:
Gesellschaftlicher Mehrwert: Wie vielen Menschen hilft die Lösung und wie sehr? Innovationsgrad: Gibt es bereits ähnliche Lösungen (oder nicht)
Fortschritt: Was haben die Hackathon-Akteure in 48 Stunden geschafft?
Verständlichkeit: Wie gut ist die Lösung kommuniziert und dokumentiert?
Skalierbarkeit und Bedarf: Wie viele Menschen profitieren oder sind bereit, dafür zu zahlen?
Projektbeispiele: Kunst und Kultur
Am Ende geht es aber auch um Geld, um neue Geschäftsmodelle und die Finanzierung der vielversprechendsten Projektideen. Niemand der Teilnehmer möchte, dass gute Ideen nur Theorie bleiben. Auch ohne Geldgeber wollen viele Akteure daher ihre Ideen weiter entwickeln. Für den besonders von Corona betroffenen Bereich der Kultur- und Kreativschaffenden haben Akteure der Branche nach konkreten Lösungsansätzen gesucht, so z. B. YourExhibit – eine Plattform für digitale Messen und Kongresse, ein wohltätiges, virtuelles Musikfestival Daheimdabei, ein Digitaler Museumsführer Cultours und eine Plattform für creative-public-partnership, um öffentliche und private Finanzierer mit Kreativen zu vernetzen.
Plattform für Online-Konzerte und Workshops
Die Fotografin und bildende Künstlerin Susanne Wehr hat mit ihrem Team das Konzept für eine Online-Plattform &kunst entwickelt (siehe Podcast-Interview). Die Idee: „Plattform für Event-Streaming und Online-Festivals: &kunst kreiert lebendiges Erleben und Entdecken von digitalen Veranstaltungen. Durch die bundesweite Vernetzung und Bündelung von Events, Orten und Künstlern schafft die Plattform ein übergreifendes und bisher nicht vorhandenes Angebot aus Livestreaming, vorproduzierten Inhalten und Online-Workshops und -Tutorials.“ Die Jury-Kriterien beschreibt das Team auf der Projektseite des Hackathon so:
- Gesellschaftlicher Mehrwert: für die vielen kleinen selbstständigen Künstler und Kulturschaffenden, die jetzt am meisten leiden.
- Innovationskraft: die Plattform bietet mehr als nur Performancekünstlern eine Plattform -> Videostream-Seiten bspw. dringeblieben.de
- Skalierbarkeit: von lokalen Festivals bis ganz Deutschland und in die ganze Welt!
- Fortschritt während des Hackathons: Prototyp
- Verständlichkeit der Lösung: hopefully 🙂
PODCAST – Interview mit der Künstlerin Susanne Wehr
Weitere Projektideen und Fragestellungen
Das Team von Jessica Müller hat das Spiel Raumschiff-Coronia für die ganze Familie entwickelt, das ohne Kauf und Lieferwege selbst ausgedruckt werden kann. Katja Kohlstedt entwarf im Team das Projekt Edumentoring, damit 2020 kein verlorenes Bildungsjahr wird! Es bietet eine Plattform für LehrerInnen, die ihren Unterricht zumindest teilweise digitalisieren möchten, eine Art Wiki-Linksammlung mit Tutorials, Tools, Apps und best practice.
- Aus eigener Beobachtung und Betroffenheit heraus, z. B. Kita- und Schulschließung, stellten viele Teilnehmerinnen diese Fragen:
- Wie können wir gemeinsam die Betreuung unserer Kinderbetreuung in Zeiten von Corona sicherstellen?
- Wie können wir die Hilfe unter Nachbarn digital organisieren?
- Wie können wir einen Überblick über aktuelle Zahlen zu Infizierten sichern?
- Wie können Fakenews und Verschwörungstheorien bekämpft werden?
- Wie können wir dabei helfen, dass direkt vermarktete Produkte, Obst und Gemüse, auch während der Krise noch zu ihren Kunden finden?
Soziale Ideen und technologische Innovationen
Auch renommierte Unternehmen haben Gelder für die Realisierung von Lösungsansätzen zugesagt und sich bereits während des Hackathons eingebacht. Eine gute Möglichkeit, Talente zu sichten sowie neue Geschäftsmodelle. Viele Ideen sind soziale Innovationen, so z. B. der Vorschlag für feste Zeitfenster am Tag, in denen ausschließlich ältere Menschen bzw. Risikogruppen in den Supermarkt zum Einkaufen gehen. Die meisten Ideen entstanden mit Unterstützung technologischer Tools. Hier beteiligten sich besonders große Unternehmen, u. a. auch Google. Über den Kartendienst Google Maps z. B. konnten Teilnehmerinnen herausfinden, wie wieviele Menschen sich in Restaurants, Sehenswürdigkeiten und an anderen Orte in einer Stadt aufhalten. Ein Vorhaben, was Datenschützer kritisch sehen könnten, auch wenn es in der Corona-Krise helfen kann, Zusammenhänge zwischen Verhaltensweisen und der Ausbreitung des Virus herzustellen. Clara Sahara und ihr Team haben zum Beispiel als Gegenentwurf eine Virus Tracking App entwickelt, die auf Bluetooth-Technologie basiert und keine persönlichen Daten (z. B. Standort) trackt. Von einer offiziellen Seite wird verifiziert, dass jemand infiziert ist. Dann werden alle, die in unmittelbarer Nähe waren, benachrichtigt (mit entsprechenden Handlungsempfehlungen, basierend auf der Risikobewertung).
Engagement aufrecht erhalten und weitertragen
Trotz der Krise und persönlicher Sorgen trägt die positive Grundstimmung durch das gesamte Wochenende, berichten die Teilnehmer. Die Zusammenarbeit funktioniert deshalb sehr gut, weil alle an Lösungen interessiert sind. Der gemeinsame Wunsch ist, dass alle in der Gesellschaft an der großen Herausforderung und den vielen Unwägbarkeiten wachsen werden – für ein Leben, das endlich nachhaltiger, gesünder, friedlicher und sozialer ist.
CORONA-Soforthilfen für Kultur- und Kreativschaffende
„Kreative Deutschland“ – der Bundesverband für Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland hat ein Online-Pad erstellt, das über Soforthilfen für Kultur- und Kreativschaffende aus Bund und Ländern informiert. Es wird laufend aktualisiert.