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Wer hat die Macht? Mehr Demokratie und Mitbestimmung in Unternehmen

1972 prangerte Rio Reiser im Song „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben politische und gesellschaftliche Missstände der Zeit an. Im Hinblick auf Mitbestimmung hat sich seitdem einiges getan, sogar in der Unternehmenslandschaft, wie Autor Andreas Zeuch recherchiert hat. Ich habe mir sein Buch Alle Macht für niemand genauer angesehen.

Mitarbeiterengagement

Berater und Autor Andreas Zeuch hat durchgerechnet, dass deutschen Unternehmen von 2001 bis 2013 rund 1,3 Billiarden Euro verloren gegangen sind. Basis für seine Erkenntnis ist der jährliche Engagement Index des Gallup Instituts. Hauptgründe für die Verluste sieht Zeuch in mangelnder Mitgestaltung, Mitbestimmung und fehlender Selbstorganisation der Unternehmen und ihrer Mitarbeiter. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen die Studien „DGB-Index: Gute Arbeit, schlechte Arbeit 2010“, die INQA-Studie „Was ist gute Arbeit 2006“, sowie Towers Watson „Global Workforce Study 2012“.

Häuptlinge und Indianer

Zeuch zieht spannende Vergleiche heran, etwa wenn er das Totschlag-Argument von Führungskräften gegen Mitbestimmung von Mitarbeitern unter die Lupe nimmt: „Wir brauchen nicht nur Häuptlinge, sondern auch Indianer.“ Der Autor deckt auf, dass Kolonialmächte das Bild vom allmächtigen Häuptling geprägt hätten, genau genommen habe es ihn in den Hierarchiestrukturen indigener Kulturen nie gegeben. Denn: Häuptlinge mussten sich faktisch stets den Entscheidungen des Ältesten- oder Stammesrates beugen. Die Weisheit der Gemeinschaft stand meist über der des Einzelnen (S. 26/27).

Eine Erkenntnis, die heute in die Praxis des agilen Arbeitens in Kleingruppen eingeflossen ist. Was der scheinbar gesunde Menschenverstand einer einzelnen Führungskraft ableitet, kann sich bei Berücksichtigung mehrerer Perspektiven als irrationale Fehlentscheidung erweisen, weil einige Aspekte schlicht übersehen werden können. Gerade das Detailwissen eines einzelnen Mitarbeiters über einen spezifischen Arbeitsbereich kann Routinen durchbrechen und eine Firma entscheidend voranbringen.

Motivation und Erwartungseffekt

Auch wenn eine einzelne Führungskraft für sich allein rascher entscheiden mag, wird es anschließend um so länger brauchen, diese Entscheidung zu kommunizieren, an Mitarbeiter weiterzutragen und von Ihnen umsetzen zu lassen. Werden Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse eingebunden, wird die Ergebnisfindung ggf. länger dauern, doch schließlich wird das Vorhaben von den Mitarbeitern rascher umgesetzt, da sie es mit Überzeugung, Sachverstand und Motivation tun. Die Aussichten auf Erfolg sind dann hoch, wenn eine Führungskraft von ihren Mitarbeiter eine gute Leistung erwartet und sie dazu ermutigt, „Mach es, weil Du es schaffst!“. Zeuch nennt das den „Erwartungseffekt“, bekannt auch als Rosenthal- oder Andorra-Effekt (S. 36).

Mehrere Studien aus den 70er Jahren, so Zeuch, weisen zudem nach, dass direkte Mitentscheidung in Unternehmen auch außerhalb der Arbeitswelt das politische, kulturelle und gesellschaftliche Engagement fördern würden ( S. 51). Unternehmen seien insofern „Demokratielabore“. Er stellt aber auch klar: Holokratie bedeute nicht, in Anarchie zu leben, sondern mit klaren Regeln und Ritualen vorzugehen.

Formen der Mitbestimmung

  • operativ, d.h. Mitarbeiter dürfen ihre eigene Arbeit täglich und kurzfristig mitgestalten
  • taktisch, d.h. Mitarbeiter treffen mittelfristig Entscheidungen für den wirtschaftlichen Erfolg der Firma, z.B. auch im Bereich Personal
  • strategisch, d.h. Mitarbeiter entscheiden langfristig und existenziell für die Firma

Ausführlich erläutert Zeuch den Grad der Mitbestimmung im Unternehmen:

Zeuch hat in seinem Buch 12 Beispiele von Unternehmen zusammen getragen, die demonstrieren, dass sich mehr Teilhabe und Gestaltungsmöglichkeiten von Mitarbeitern sowohl positiv auf die Unternehmenskultur auswirkt, als auch Produktivität und wirtschaftlichen Erfolg einer Firma entscheidend steigern können. Es sind alles Unternehmen verschiedener Branchen mit mindestens 100 Mitarbeitern, was beweist, dass Demokratie nicht nur in Kleingruppen aufgeht. Seine Beispiele repräsentieren Automotive, Chemie, Finanzdienstleistung, Hotellerie, Metallindustrie, Softwareentwicklung, u. a. die folgenden…

Vorreiter-Unternehmen für Mitbestimmung

Die 100 Jahre alte Volksbank Heilbronn löste unterhalb des Vorstandes alle Hierarchie-Ebenen auf und übertrug mehr Verantwortung an sogenannten Prozessverantwortliche, mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Innerhalb von vier Jahren konnte die Genossenschaftsbank die Zahl der Mitglieder, Kundenkredite und -Einlagen um etwa 25% steigern.

Das Autohaus Hoppmann in Siegen konnte seine Bilanzsumme in 25 Jahren um 730 % auf 36,5 Millionen Euro steigern, weil Mitarbeiter überaus motiviert an wirtschaftlichen Entscheidungen und Investitionen mitwirken dürfen und am Erfolg der Firma finanziell beteiligt werden. Kleinere Arbeitsteams entscheiden über die täglichen Aufgaben und über Arbeitszeiten, ebenso über Projekte und Mittel der Hoppmann Stiftung, die sich u.a. für benachteiligte Kinder und Jugendliche einsetzt.

Die Haufe-Umantis AG entwickelt Personalmanagement-Software und ist ursprünglich ein Ausgründungsstart-Up der Hochschule St. Gallen. Die Geschäftsleitung entschied sich 2013, den neuen Geschäftsführer von der Belegschaft wählen zu lassen. Es war der Auftakt für einen tiefgreifenden Wandel, der dem Unternehmen eine Steigerung der Mitarbeiterzahl, der Standorte und Kunden um rund 100 Prozent brachte sowie die Umstellung von Individual- auf Standardsoftware-Lösungen. Heute werden alle neuen Führungskräfte von Mitarbeitern gewählt und Strategien gemeinsam in Workshops erarbeitet. Ehemalige Führungskräfte treten bereitwillig in die zweite Riege, wenn sie oder die Mitarbeiter es als sinnvoll für das Unternehmen erachten.
Die Farbenwerke Wunsiedel fokussieren sich besonders auf die Frage, warum bestimmte Aufgaben von Mitarbeitern lieber erledigt werden als andere. Die Geschäftsleitung geht individuell darauf ein, dass der Mensch sich im Verlauf des Lebens ändert. Regelmäßig wird der Arbeitspool an die Interessenlage der  Mitarbeiter angeglichen, Visionen und Prinzipien stetig überprüft. Ideen von Mitarbeitern werden monatlich öffentlich ausgehängt, die interessierte Kollegen im Anschluss gemeinsam weiterentwickeln können. Schnell zeigt sich so, wer ein neues Thema motiviert voranbringen möchte und wer nicht.

Wertebaum für die Persönlichkeitsentwicklung

© Wertebaum, Upstalsboom

Die Hotel- und Freizeitkette Upstalsboom hat als neuen Leitgedanken für das Unternehmen den Slogan „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ gewählt. Dem voraus ging im Jahr 2009 eine niederschmetternde Beurteilung des Geschäftsführers Bodo Janssen und dessen Führungsstils durch die Mitarbeiter der Firma. Janssen ließ sich über fast zwei Jahre von Benediktinerpater Anselm Grün beraten und fand so zu einer neuen Unternehmenskultur. Im Zentrum steht nun vor allem die Zufriedenheit der Mitarbeiter. Regelmäßig befragt Janssen sie, u. a. in Kultur-Workshops:

  • Was ist für dich wichtig?
  • Für welches Thema möchtest du dich einsetzen?
  • Welche Talente möchtest du einbringen?
  • Welche Aufgaben machen dir Spaß?

Zu den Kultur-Workshops werden auch Familienangehörige eingeladen, um berufliche und private Entwicklungsprozesse aufeinander abzustimmen und systemische Zusammenhänge sichtbar zu machen, z.B. in „Wenn-Dann-Szenarien“. Teilhabe ist ein neurobiologisches Grundbedürfnis. Viele Details der Selbstwahrnehmung, Wertschätzung und Achtsamkeit tragen zur Demokratie und Kultur im Unternehmen bei, auch durchaus ungewöhnliche Aktionen, z.B. weil Janssen plant, mit einigen Azubis den Kilimandscharo zu besteigen, um deren Selbstbewusstsein zu steigern. Seitdem das Glück der Mitarbeiter im Fokus steht, erwirtschaftet Upstalboom regelmäßig Gewinne.

Der traditionsreiche über 250 Jahre alte Weißblechhersteller ThyssenKrupp Rasselstein GmbH betreibt mit seinen über 1000 Beschäftigten ein partizipatives Gesundheitsmanagement, indem Mitarbeiterideen und -vorschläge in alle Präventionsmaßnahmen einbezogen werden und sämtliche Hierarchie-Ebenen erreichen. Wechselschichten finden nach einer Pilotphase nicht mehr im wöchentlichen Wechsel statt, sondern nach jeweils zwei Wochen.

Gemeinwohl-Maximierung statt Gewinn-Maximierung steht im Zentrum der noch in Entstehung begriffenen Bank für Gemeinwohl, gegründet 2011 in Wien aus einem Genossenschaftsverein heraus. Nach einer Crowdfundingaktion soll es 2018 die ersten Konten geben. Geplant wird die Bank mit nur 10 Mitarbeitern, man hofft am Ende auf bis zu 40.000 Miteigentümern, die den Alltag der Bank gemeinsam gestalten. Entscheidungen sollen aus Fragestellungen heraus entwickelt und über systemisches Konsensieren getroffen werden, dies soll auch ortsunabhängig über Online-Tools möglich werden. Eine zivilgesellschaftliche Initiative, in der die Beteiligten täglich und stetig hinzulernen wollen.

Aus Venezuela stellt Zeuch das Beispiel der Kooperative Cecosesola vor, die sich in einem 50jährigen Existenzkampf stetig weiterentwickelte und immer wieder neue Geschäftsmodelle erfand: vom Verkauf von Obst und Gemüse über den Betrieb eines Busfahrunternehmens bis hin zu Bildungsveranstaltungen und verschiedenen Dienstleistungen (mehr in diesem Film).

Vom Denken zum Handeln

Erfreulicherweise bleibt Andreas Zeuch nicht bei der Theorie. Er beendet sein beispielreiches Buch mit elf aktivierenden Aufbruchsthesen, um Theorie in Praxis zu überführen und vom Denken zum Handeln zu gelangen. Er geht kurz auf Methoden und Sinn von Unternehmenstheater ein, spricht über Rollen, Funktionen, Simulationen und Selbstorganisation. Er erläutert Chancen und Gefahren von Gruppendynamiken, stellt mögliche Organisationskonzepte vor und schildert zuletzt den Wandel des Personalvorstands Thomas Sattelberger vom effizienzgetriebenen Manager zu einem demokratisch denkenden und wertschätzenden Menschen.

Zeuch schließt sein Buch mit der Überzeugung, dass wirkliche Innovation durch innere Haltung und Kultur entsteht und mit der Hoffnung, dass es in hundert Jahren mehr demokratische Unternehmen gäbe. Es lohnt, für diese Vision jeden Tag mutig zu kämpfen.

Quelle: Andreas Zeuch: Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten. Murmann Verlag 2015.

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