re: Reiner Wiese © Tante Salzmann
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Beobachten und spielen: Improtheater mit Reiner Wiese

Reiner Wiese liebt es, Rituale aufzubrechen. Was vielleicht daher rührt, dass er in zwei Welten zu Hause ist: in der Berufsschule und auf der Theaterbühne. Reiner ist Lehrer und Schauspieler. Wie diese beiden Welten zusammenpassen oder ob sie sich beeinflussen, hat er mir im Interview erzählt.

PODCAST-INTERVIEW mit Reiner Wiese

Spieltrieb

Reiner nimmt die Welt und seine Umgebung vorrangig mit den Augen wahr. Menschen interessieren ihn. Er beobachtet ihre Mimik, wie sie sich bewegen, ob die Ausstrahlung harmonisch oder hölzern wirkt, ob jemand glaubwürdig ist. Körpersprache ist für Reiner elementar. Mit seiner Kieler Theatergruppe Tante Salzmann hat er sich auf Impro-Theater spezialisiert. Dazu passe, meint Reiner, dass er einen gewissen Spieltrieb habe, in mehrfacher Hinsicht. „Ich brauche ihn natürlich auf der Bühne, um Dinge auszuprobieren, etwas spontan aus dem Bauch heraus zu machen. Ich bin grundsätzlich neugierig und freue mich darauf, etwas Neues zu entdecken und schaue auch gern mal über den Tellerrand. Ich bin nicht der Typ, der sich immer in einem festen Rahmen bewegt. Außerdem gehe ich auch zu Spieleabenden.“

Reiner Wiese, © MassivKreativ

Spontaneität

Improtheater ist eine besondere Form des Theaters. Es gibt keine festgelegten Texte. Es muss also nichts auswendig gelernt werden. Die Schauspieler verständigen sich vielmehr über Situationen und Konstellationen auf der Bühne, Handlungsorte oder Szenarien. Die Texte entstehen spontan. Eine/r muss auf die andere/n reagieren und Antworten erfinden. „Ich bin experimentierfreudig und lasse mich gerne überraschen. Wenn man Improtheater spielt, wird man ganz, ganz häufig überrascht. Sei es durch die Mitspieler, die einen ganz anderen Gedanken zu einer Gegebenheit haben als man selbst. Und dann muss irgendwie damit umgehen.“

Schnittmengen

Ob ihm dieses Training auch in seinem „bürgerlichen“ Beruf als Lehrer hilft? „Natürlich kann ich das in meinem Lehrerdasein auch gebrauchen, dass ich bereit bin, mir für ungewöhnliche Situationen etwas einfallen zu lassen. Ich kann dadurch ein bisschen locker bleiben. Wenn etwas Unvorhersehbares passiert, muss ich nicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sondern sehe diese neue Situation als Chance. Andererseits habe ich in der Schule gewisse Vorgaben zu erfüllen und muss mich innerhalb eines festgelegten Rahmens bewegen.“

li: Reiner Wiese © Tante Salzmann

Spielorte

Die Theatergruppe Tante Salzmann ist eine Troika: neben Reiner Wiese gehören Dagmar Richter und Carsten Kühl zum festen Ensemble, manchmal unterstützt von zwei Musikern, die sich ebenfalls als Schauspieler einbringen. Ihre Auftrittsorte sind vielfältig: Kleinkunstbühnen, Kneipen, Kulturvereine, sie liegen überwiegend in Schleswig-Holstein, zuweilen finden sie auch überregional statt. Für das Goethe-Institut reiste die Gruppe sogar nach Sibirien. Eine wertvolle Erfahrung, weil das Pantomimische vor allem dort wirkt, wo die Verständigung über Sprache fehlt: „Das hat wunderbar funktioniert durch diese starke Körperlichkeit, die wir auf der Bühne gezeigt haben.“

Wortlose Verständigung

An diese Erfahrungen können Reiner und Dagmar bei ihrem Workshop in Preetz anknüpfen, einer Gemeinde in Schleswig-Holstein südlich von Kiel mit etwa 16.000 Einwohnern. In den Gemeindesaal im Bugenhagenhaus sind an diesem Samstag etwa 14 Erwachsene gekommen, neben Alteingesessenen auch Neubürger:innen, die erst seit 2-3 Jahren im Ort leben. Viele stammen aus Afghanistan und Syrien. Das Spielen ohne Worte gibt den Geflüchteten Selbstvertrauen und Sicherheit. Situationen pantomimisch zu entwerfen ist auch für die Alt-Preetter gar nicht so leicht. „Erst mal Lockerwerden“, sagt Reiner zu Beginn. Kopf- und Schulterkreisen, Arme und Beine ausschütteln, den Atem fließen lassen. Nach verschiedenen Aufwärmübungen zum Gehen, Laufen, Hüpfen und Schleichen bittet Reiner die Teilnehmer:innen einzeln, konkrete Situationen nachzuspielen. Die anderen sind Publikum und müssen raten, welcher Gemütszustand jeweils dargestellt wird: verliebt, stocksauer, überrascht, aufgeregt usw. Es gelingt allen ganz gut, es wird viel gelacht, man lernt sich näher kennen.

Gruppe und Reiner Wiese, © MassivKreativ

Miteinander agieren

Nach einer Verschnaufpause sollen die Teilnehmer:innen nun gemeinsam spielen. Reiner bittet Dreiergruppen, pantomimisch zusammen einen Schrank aufzubauen. „Einigt Euch, wer Euer/Eure Chef:in in der Gruppe ist.“ Fragende Gesichter. Lieber wenige, klare Gesten machen oder sie mit großen Bewegungen überzeichnen? Es zeigt sich, dass jeder typbedingt anders vorgeht, einige stellen Ähnlichkeiten fest. Und schon bilden sich Sympathien und Seilschaften, die es anfangs noch nicht gab. „Warum geht ihr zum Zahnarzt“, fragt Reiner. „Für die Prophylaxe oder bei Zahnschmerzen“, sagen die Altpreetzer. Beim Spielen entstehen noch andere, originelle Situationen: einer kommt rein, weil es draußen regnet, eine überbrückt Wartezeit und liest ein Magazin, jemand vom TÜV überprüft die Bohrmaschine und jemand vom Amt die Einhaltung der Hygiene-Maßnahmen. Kreativität und Phantasie fördern die Experimentierfreude.     

Improvisation in Arbeitswelten

Routinen aufbrechen, ungewöhnliche Wege gehe, mutig sein, sich etwas zutrauen, all das möchte Reiner in seinen Workshops umsetzen. Auch, wenn sie ihn in normale Arbeitswelten führen. Die lange Liste der Referenzen von Tante Salzmann zeigt, dass die Methoden des Improtheaters vielfältig anwendbar sind und sich abseits der Theaterbühne auf andere Bereiche und Branchen übertragen lassen. Um neuen Schwung in Institutionen zu bringen,  wird die Impro-Gruppe gerne als Unternehmenstheater gebucht, z. B. von Krankenhäusern und Krankenkassen, Sportvereinen, Gewerkschaften, Kulturverbänden, Kirchenkreisen, Stiftungen und Schulen. Mit welchem Ziel? Reiner erklärt: „Es haben sich in den Firmen meistens gewisse Abläufe etabliert, die vielleicht gar nicht mal schlecht sind – sie dienen als Rahmen und zur Orientierung. Aber wenn diese Regeln verkrusten und sie eher behindern, dann muss man die Verkrustungen aufbrechen. Wir führen im Improtheater vor Augen, dass es sich lohnen kann, auch mal um die Ecke zu denken, gewohnte Wege zu verlassen und mutig etwas Neues auszuprobieren.“

re: Reiner Wiese © Tante Salzmann

Wissen und Handeln

Wer es noch praxisnaher möchte, kann die Crew von Tante Salzmann für Trainingsseminare buchen. Nicht nur zusehen, sondern selber machen, heißt die Devise: „Hier können die Teilnehmer:innen z. B. an ihrer persönlichen Ausdrucksfähigkeit arbeiten, sowohl mündlich als auch an ihrer körperlichen Präsenz feilen. Es gibt Leute, die haben es vielleicht auf der Karriereleiter schon recht hoch geschafft. Und trotzdem gibt es noch Hemmschuhe, wobei ihnen nicht bewusst ist, wo genau sie liegen. Und die lassen sich Impro-Spielchen offenlegen. Im zweiten Schritt kann man dann daran arbeiten sie abzulegen.“

Worte und Taten

Improtheater bietet einen geschützten Rahmen, in dem man sich erproben und auch mal Fehler machen kann. Heutzutage will jeder um jeden Preis Fehler vermeiden. Das verhindert aber zugleich, dass Neues entsteht. Nur wer wagt, der gewinnt, sagt der Volksmund. „Führungskraft zu sein heißt ja nicht, alles automatisch und naturgemäß gut zu können oder dass man alles gleich gut kann. Viele können gut in Worten erklären, aber die Körpersprache sagt etwas ganz anderes“, erklärt Reiner. Wenn ein/e Chef:in etwas von ihrem Team möchte, dann müsse sie/er das auch klar und deutlich in der Körpersprache zum Ausdruck bringen. Oder um mal genauer hinzuschauen: Welche Umgangskultur haben wir eigentlich bei uns in der Firma und das Miteinander zu reflektieren. In Unternehmensworkshops lasse sich das in kleinem Rahmen sehr gut ausprobieren, meint Reiner.

© Reiner Wiese, MassivKreativ

Experimentieren

Das gemeinsame Spielen, Beobachten und Reflektieren schweißt Teams ganz anders zusammen als ein Betriebsausflug zum Bowling oder Klettern. Man kann mal in eine ganz andere oder neue Rolle schlüpfen, etwas ausprobieren, mutig und angstfrei, ohne dass man gleich kritisiert werde. Reiner: „Unsere Teilnehmer:innen könne sich auch verbal erproben, ihre Tonlage testen. Wie wirke ich, wenn ich jemandem gegenübertrete, höher oder tiefer, lauter oder leiser spreche. Ich ermutige die Teilnehmer:innen immer, in diesem spielerischen Rahmen mal ihre Komfortzone zu verlassen und die ganz Klaviatur zu bespielen: Sei mal überraschend, sei mal jähzornig, sei mal liebevoll, sei mal unwahrscheinlich neugierig, sei mal erschreckt. Und wie wirkt das auf Dein Gegenüber?“

Spieltrieb wiedererwecken

Jeder brauche von Zeit zu Zeit neuen Input, um auf neue Gedanken zu kommen, meint Reiner. Und dabei helfe das Spielen. Es brauche immer etwas, bis die Leute trauen. Wenn das Eis erst mal gebrochen ist, genießen es die meisten, miteinander spielen zu dürfen: „Ich bin überzeugt, dass der Spieltrieb auch in uns Erwachsenen noch voll und ganz da ist, er ist nur bei den meisten etwas verschütt gegangen“, sagt Reiner. „Als wir acht, neun Jahre alt waren, konnten wir alle durch den Wald gehen und improvisieren: Räuber und Gendarm spielen oder was auch immer, ohne dass ein Regisseur uns Anweisungen gegeben hätte, was man sagen soll oder wohin man springen muss. Das hat man einfach so gemacht. Wir haben intuitiv gespielt. Doch im Erwachsenenalter gibt es dann so viele Regeln zu beachten, dass man nur noch denkt: Oh je, welche Regel übertrete ich denn jetzt schon wieder. Und dann verliert man das Intuitive und Unbekümmerte. Diese Narrenfreiheit müssen wir wieder zurückgewinnen.“

© Reiner Wiese und Improtheatergruppe, MassivKreativ

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Das Musik-Theater-Projekt mit Geflüchteten in Preetz wird gefördert im Programm Miteinander reden der Bundeszentrale für politische Bildung.

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