© MassivKreativ, Fassade auf dem Gelände am Kraftwerk Bille Hamburg
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Stadt neu denken mit Rolf Kellner

Was braucht eine lebenswerte Stadt? Das habe ich den Stadtplaner und Architekten Rolf Kellner gefragt. Er sieht sich mit seinem Hamburger Planungsbüro üNN als „Reparaturbetrieb“. Mit welchen kreativen Methoden er Fehlentwicklungen in Stadtquartieren aufdecken und heilen will, hat er mir im Interview erzählt. Es geht um Geschichten, um Filter, Kopfstand-Fragen, kreative Quartierserkundungen, wie die Billesafari, und um innovative Aktionen bei Beteiligungsvorhaben und Gebäude-Umnutzungen, wie aktuell im Zentrum für Zukunft / Artstadt, dem ehemaligen Karstadt-Sport-Haus am Hamburger Hauptbahnhof.

Vielfalt und Mix

In welcher Stadt wollen wir leben? Dazu gibt es unterschiedliche Interessen – im Hinblick auf bezahlbaren Wohnraum, eine ästhetisch ansprechende Häuserstruktur, auf nachhaltige Energie- und Mobilitätskonzepte und kurze Wege zu den wichtigsten Orten. Dies wird durch ein Nebeneinander bzw. eine gute Durchmischung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit erreicht. Die ideale Stadt sollte gemeinschaftlich, wertorientiert und enkelfähig gestaltet werden. Wir alle wünschen uns Natur und Parks, ein lebendiges Umfeld, nette Nachbarn. Die Frage nach der lebenswerten Stadt lässt sich also auf vielfältige Weise beantworten. Um herauszufinden, was wir uns wirklich wünschen, nutzt Rolf zuweilen die Kopfstand-Methode, er fragt: „Was stört uns in einer Stadt?“ Die Antwort: Monofunktionale Strukturen, die gibt es an Orten, an denen man entweder nur arbeitet oder nur wohnt und schläft oder nur zum Shoppen geht. Schon vor Corona sei Stadtentwicklern klar gewesen, dass einiges in unseren Städten in Schielflage geraten ist, sagt Rolf. Die Folge sind gesichtslose Innenstädte mit immer gleichen Marken und Ketten. Vielerorts  fehle es an konsumfreien Zonen, in denen Menschen Sinnstiftung durch Horizonterweiterung erleben. Hier könnte einiges ausprobiert werden, betont Rolf, etwa durch temporäre Popup-Zonen und mobile Aktionen von Künstler:innen.

Schnell und innovativ

Kleinere Städte haben häufig mit Leerstand zu kämpfen, weil zu viele Bewohner:innen online oder in billigen Großmärkten kaufen. Rolf ist trotzdem ein Fan von Klein- und Mittelstädten, weil sie in Krisenzeiten agiler und schneller operieren könnten als die Tanker der Metropolen. „Stadtplaner:innen und Bewohner:innen sind näher am Bürgermeister und an den Ämtern dran, die die Dinge dann auch mutiger entscheiden können.“ Kleinere Städte sind sich ihrer Geschichte und ihren Menschen oft stärker bewusst, sie kennen ihre Handwerker:innen und Händler:innen, ihre Kultur- und Naturorte. All das, was Regionen einzigartig, unverwechselbar macht und ihnen Gesicht gibt.

Rolf Kellner, © Foto: Manuel Stülten

Transfer klein – groß

Die Erkenntnisse aus kleineren Städten lassen sich durchaus auf Großstädte übertragen, weiß Rolf. Übertragung durch Transfer ist eine Kreativtechnik, die auf den Werbefachmann Alex Osborne zurückgeht: die Osborne-Methode. Mit dieser Methode lassen sich schon vorhandene Dinge modifizieren, z. B. anpassen oder umkehren. Rolf Kellner erklärt: „In Hamburg denke ich immer vom Kleinen her, von der Straße und vom Quartier aus. Themen wie Verkehrsstau lassen sich im direkten Gespräch mit Bewohner:innen gemeinsam diskutieren und lösungsorientiert angehen, z. B. in einem Raumlabor im Quartier.“ Wichtig seien Touren, Rundgänge und persönliche Formate, z. B. Workshops, in denen sich verschiedene, diverse Akteur:innen begegnen und sich jede/r gehört und ernst genommen fühlt: Bewohner:innen und Geschäftsleute, städtische oder kommunale Verwalter:innen, Immobilienwirtschaft, Politiker:innen, Verkehrsplaner:innen, Mobilitätsexpert:innen usw.

PODCAST: Interview mit Rolf Kellner

Altstadt neu denken

Erfolgreich bewährt hat sich z. B. in Hamburg die Workshop-Reihe „Alle machen Stadt!“ im Jahr 2019, erzählt Rolf. Konkret ging es um neue Konzepte für die Hamburger Altstadt, ein historisches Viertel nahe der Elbphilharmonie, in dem vergleichsweise wenige Menschen leben. Das Quartier schöpft seinen Charme aus drei historischen Kraftquellen: dem Hopfenmarkt, dem alten Alsterhafen und der Hauptkirche St. Katharinen, flankiert von kleinen, inhabergeführten Geschäften und Restaurants, Kanzleien und Immobilienbüros. Es ist ein Viertel, das mit zu viel Verkehr zu kämpfen hat. Die Leitfrage des Workshops „Wie wollen wir in Zukunft in der Stadt leben?“ habe viele kreative Ideen und neue Handlungsräume hervorgelockt, u. a. eben auch zum Thema autofreie bzw. autoarme Stadt, erinnert sich Rolf. Vieles kann im Kleinen ausprobiert werden, so entsteht die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen. Was auf dem Reißbrett erdacht wird, heißt noch lange nicht, dass es in der Praxis funktioniert. Modell- und Pilotprojekte seien wertvoll, um herauszufinden wie nachhaltige Stadtentwicklung funktionieren kann. Die Genossenschaft Gröninger Hof eG demonstriert z. B., wie ein altes Parkhaus an der Katharinenkirche – statt es abzureißen – auch umgebaut und zu Wohnraum umgenutzt werden kann.

Lebendigkeit

Das Projekt „Der Drache erweckt die hamburgische Altstadt“ wirkte impulsgebend, der  Drache stand als Symbol für Lebendigkeit und Mut. Eine echte Storytelling-Kampagne unter dem Motto „Altstadt neu denken“, entwickelt und initiiert wurde von der zivilgesellschaftlichen Initiative Altstadt für alle. Verschiedene Akteur:innen sind daran beteiligt, maßgeblich die „Patriotische Gesellschaft von 1765“ (zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe), die Evangelische Akademie der Nordkirche – insbesondere mit der Gemeinde der Hauptkirche Sankt Katharinen, die Gruppe „Hamburg entfesseln“, Rolfs Büro ÜberNormalNull und weitere Akteur:innen. Mit Kulturprogrammen, Kunstwerken und geführten Führungen wurden alle Hamburger:innen zum kreativen Ideenaustausch eingeladen zu überlegen, wie die Stadt der Zukunft aussehen und sich anfühlen soll. Mit Sofas, Sitzmöbeln und einer beleuchteten Bar wurde auch die richtige Atmosphäre zur Ideenfindung geschaffen. 

Autoarme Altstadt

Aus dieser Initialzündung entstand das temporäre Modellprojekt „autoarme Altstadt“. Um verschiedene Interessen aufzugreifen, entstand die Idee 11-11. Tagsüber war das Quartier für den Verkehr gesperrt (von 11-23 Uhr), nachts konnte der Lieferverkehr zwischen 23 Uhr und 11 Uhr fließen. Die Bedenken, Sorgen und Ängste vieler Geschäftsleute und Gastronomiebetreiber:innen konnte Rolf mit seinen Unterstützern durch direkte Gespräche austräumen, eindeutig besser als standardisierte Fragebögen. Ein offenes Ohr für alle zu haben ist heute unverzichtbar, es ist zeitgemäß und zielführend. Gerade in kreativen Kooperationen und der Zusammenarbeit mit Communities liege heute eine große Chance, sagt Rolf. Er sei heute nicht mehr als Einzelkämpfer unterwegs, sondern in Netzwerken. Damit setzt er im Dialog auf die Weisheit der Vielen.

Wurzeln und Anfänge

Rolf Kellner ist Gründer und Geschäftsführer des Hamburger Planungsbüros ÜberNormalNull – er nennt es lakonisch üNN. Kunst, Bauen und Stadtentwicklung, diese drei Aspekte haben von Beginn eine wichtige Rolle für seine Arbeiten gespielt, was auch biografisch zu erklären ist. Rolf und seine Mitgründer:innen haben Stadtplanung und Architektur an der Kunsthochschule studiert und später noch an der Fachhochschule und der TU Harburg Zusatz-Qualifikationen erworben. Mit dieser Mischung hat üNN im Bereich Landart und Kunst im öffentlichen Raum zahlreiche Projekte für Stadtentwicklung angeschoben: „Unser Büro existiert seit 2000. Damals waren wir die Rebellen. Die Hafencity haben wir als junge Wilde begleitet und natürlich die Internationale Bauausstellung, die IBA auf der großen Elbinsel in Wilhelmsburg, die zum Sprung über die Elbe einlädt.“

© MassivKreativ

Im Maschinenraum

In den letzten Jahren steht der Hamburger Osten in Rolfs Fokus, das sogenannte Zweistromland zwischen Elbe und Bille rund um das Kraftwerk Bille, das ehemalige Elektrizitätswerk in Hamburg. „Da versuchen wir auch richtig strategisch schon eigene Projekte nach vorne zu bringen, da sind wir quasi schon mit im Maschinenraum drin.“ Geführte Touren sind überall zu einem probaten Mittel und Format, um Menschen auf Quartiere aufmerksam zu machen, die bislang nicht im Rampenlicht stehen (im Podcast ab 39:00).

Wildwuchs-Charme

Industriebrachen und wilde, makelbehaftete Orte ziehen häufig zunächst Kreativschaffende und Stadtplaner an. Sie sehen Möglichkeiten und -Freiräume, die potentielle Investoren und normale Bürger:innen nicht auf Anhieb sehen. Um sie dennoch vom Wert dieser oft verwunschenen Bauwerke zu überzeugen, greift Rolf in seine Trickkiste. Er arbeitet mit „kreativen Filtern“ und legt sie über die noch grauen, brüchigen, ramponierten Orte, „ähnlich wie man es von Instagram kennt… so lässt sich Architektur kostengünstig aufwerten, lässt sich mit Licht und mit Klang bauen, mit Gerüchen und Geschmack spielen, also Situationen schaffen, an die sich die Leute erinnern“, sagt Rolf und ergänzt: „Die Leute gehen alle gerne über Marktplätze, haben Sehnsucht nach einer Stadt, die besonders schmeckt, die sich anders anhört, die anders riecht. Wenn wir damit arbeiten und quasi Filter auf das unfertige, dreckige, kaputte legen, dann können wir schon mal anzeigen, in welche Richtung das in Zukunft gehen könnte. Und das, glaube ich, ist eine große Qualität. Das können Architekt:innen, Musiker:innen, das können gestaltende Künstler:innen…“ (Podcast ab 32:00).

© MassivKreativ, Billekraftwerk Hamburg

Geschichtenfilter

Rolf nutzt seine Filter im wortwörtlichen und im übertragenen Sinne. Bei der unregelmäßig stattfindenden begehrten Billesafari durch halböffentliche Räume kombiniert Rolf Zukunftsvisionen mit Stadtplanung. In den Führungen zu Fuß oder mit dem Fahrrad, zu Lande und Wasser über die Bille erzählt er davon, wie es hier einmal sein könnte: mit einem Anleger oder einem Kanu-Verleih. Mit „Geschichten-Filtern“ schafft er Bilder im Kopf, durch Begegnungen mit Kreativschaffenden und ihren Kunstobjekten entstehen Situationen, die mit allen Sinnen zu erfassen sind.

Wahrnehmen, denken, entscheiden

Filtern heißt: selektieren, verändern, ersetzen, betonen und bewusste Entscheidungen zu treffen. Mit Entdeckungslust und Neugierde widmet sich das Festival MSArtville in Hamburg-Wilhelmsburg 2022 dem Filter(n). Es sei kein Thema, das man nur mit sich selbst ausmache, schreiben die kreativen Organisator:innen und Akteur:innen auf ihrer Website: „Dieser Akt und Prozess ist zugleich Kulturtechnik, kreatives Medium, politische Form. Was bedeuten Filter für uns und was resultiert aus ihnen – für uns als Individuen, als Gesellschaft, als Beobachter:innen und Gestalter:innen dieser Gegenwart?“ Künstlerin Sophia Bizer verzaubert Groß und Klein mit ihrem Glitzermuseum und fragt: „Was ist eigentlich Glitzer und was macht seine Faszination aus? In welchen Kontexten spielt Glitzer eine Rolle und wo wirkt das funkelnde Material identitätsstiftend?“ Die Besucher:innen sollen es selbst herausfinden. MSArtville ist ein Festival für urbane Kunst und geteilte Gegenwart versammelt jeden Sommer Werke, Positionen und Diskurse im Spannungsfeld von (sozio)kultureller Vielfalt, künstlerischem Untergrund und einem konkreten Thema. 

Sophia Bizer: Glitzermuseum, Foto: MassivKreativ
S. Bizer: Im Glitzermuseum, © Foto: MassivKreativ

Zentrum für Zukunft

Rolf Kellner engagiert sich auch im Bündnis Stadtherz, das sich seit 2017 für eine soziale Stadtentwicklung rund um den Hamburger Hauptbahnhof engagiert. Kernaufgabe ist die bedarfsgerechte Umnutzung der leerstehenden Kaufhäuser. Gemeinsam mit Initiativen, Vereinen und Akteur:innen aus dem Gemeinwesen, dem Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich hat das Bündnis ein Positionspapier veröffentlicht. Darin geht es insbesondere um das ehemalige, leerstehende Kaufhaus von Karstadt Sport, für das die Initiative Zentrum für Zukunft (ZfZ) seit Januar 2021 neue Konzepte entwickelt. Das Zentrum für Zukunft versteht sich als Plattform für Austausch, Aktionen und Formate zur Bündelung von Ressourcen, Wissen, Bedarfen und Kräften. Über partizipative Beteiligung sind alle Hamburger:innen eingeladen, an der Gestaltung der zukünftigen Innenstadt mitzuwirken. Die kreative Zwischennutzung des Gebäudes wird als ARTSTADT von der Hamburg Kreativgesellschaft verwaltet. Seit Juli 2022 können unzählige Kreativschaffende das Haus auf 1200m² und vier Etagen plus Dachgeschoss kommerziell und nicht-kommerziell neu bespielen. Ausstellungen, Workshops und Veranstaltungen laden zur Begegnung ein. Die kreative Nutzung von Dächern wird im Rahmen eines Festivals beleuchtet. Das Thema Kreisläufe trägt Rolf Kellner auf Etage 4 mit dem Netzwerk Zrkular in die Öffentlichkeit. Es geht um nachhaltige Materialien und umweltfreundliche Produktion und Verarbeitung mit dem Ziel eines nachhaltigen Wirtschaftens. 

© Zentrum für Zukunft, Hamburg, Foto: MassivKreativ

Die Zukunft gehört den Quartieren!

Rolf Kellner hofft in der Stadtplanung zukünftig auf kleinere, kurze und agile Projekte, dass communitybildende Initiativen mit kleineren Budgets vom Senat oder der Stadt gefördert und unterstützt werden, anstatt gleich perfekte Vorhaben mit großen Summen umzusetzen. Das sei wichtig, „um neue Möglichkeitsräume zu erschließen, Dinge auszuprobieren und Prozesse anzuschieben und zu begleiten als lebendige Quartiersbausteine. Ein Beispiel ist die Initiative Altstadtküste, die Modellprojekt für die Innenstadterneuerung sein will. Im Herzen Hamburgs sollen Straßen- und Wasserräume erforscht, transformiert und langfristig nachhaltiger gestaltet werden. Im September 2021 gab es bereits am Zollkanal zwischen Brandstwiete und Mattentwiete diverse Aktionen, Kultur, Spiele, Workshops und eine Ausstellung mit Zukunftsvisionen.

FAZIT

Nicht erst Corona hat gezeigt: Wir alle brauchen persönliche Kontakte und Beziehungen. Anonymität im Statviertel führt zu mangelnder Wertschätzung gegenüber Mitmenschen und Dingen. Das gemeinsame Denken und Tun hingegen schmiedet Menschen in ihren Herzen zusammen. Wenn Ideen und Vorhaben für ein Zusammenleben kooperativ entwickelt werden, erhält die Stadt automatisch einen neuen Fokus und bietet ungeahnte Lebensqualität.

© MassivKreativ, Holzmarkt Berlin

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DANKE!

Dieser Beitrag – bestehend aus Recherchen, Podcast-Interview und Artikel – entstand in der von mir konzipierten Themenreihe „K-Power – Kreatives Zirkeltraining“ im Zukunfts- und Stipendienprogramm der VG WORT im Rahmen von NEUSTART KULTUR, initiiert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).

Eine Antwort zu “Stadt neu denken mit Rolf Kellner”

  1. Mira Webers sagt:

    Eine Stadt zu planen, ist wahrhaftig keine leichte Aufgabe. Es gibt so viele Bedürfnisse, von verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Situationen. Da ist es schwierig, zu priorisieren. Die Kopfstand-Methode hört sich wirklich sehr interessant an, um überhaupt rauszufinden, was geändert werden muss. https://meyeringenieure.com/
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