© Tony Hegewald, pixelio.de

Warum wir eine Kultur des Fragens brauchen

Als Wissensdesignerin und Wissenschaftsjournalistin, als Moderatorin, Prozessbegleiterin und strategische Beraterin gehören Fragen zu meinem Alltagsgeschäft. Fragen sind der Motor und Treiber für meine Arbeit. Das versierte, offene und strategische Fragenstellen ist eine unverzichtbare Fähigkeit, die in meinem vielfältigen Tätigkeitsfeld Anwendung findet. Daher ist es auch Teil des von mir entwickelten Kreativen Zirkeltrainings. Ich brenne darauf, Antworten zu finden, im eigenen medialen Recherche-Prozess,  in Gesprächen mit Wissensträgern und Experten, in meinem kokreativen Netzwerk mit Projektpartner*innen, mit Akteur*innen in meinen Beratungsprojekten, mit Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten und Zufallsbekanntschaften.

Fragen und Zuhören

Umso mehr wundere ich mich im täglichen Miteinander, dass viele meiner Mitmenschen eher selten Fragen stellen. Viele Menschen reden zu viel selbst oder geben Antworten, nach denen keiner gefragt hat. Sie lassen damit Chancen verstreichen, die eigene Perspektive zu erweitern, Neues und Wissenswertes zu erfahren, Unerhörtes, Interessantes und Emotionales, Wichtiges und Merkwürdiges, Reizvolles oder gar epochal Innovatives. Neue Ideen und Projekte entstehen nur dann, wenn wir Fragen stellen und wenn wir aufmerksam bzw. „aktiv“ zuhören. Ich engagiere mich daher dafür, eine Kultur des Fragens zu etablieren und Menschen im Zuhören zu schulen. Meeting würden nachhaltigere Ergebnisse bringen, wenn sie im Dunkeln stattfinden und Mitarbeiter auf diese Weise fokussierter zuhören würden.

Mut und Offenheit gefragt

Warum fragen wir nicht häufiger bzw. auch hartnäckiger, wenn wir keine befriedigende Antwort erhalten? Dafür gibt es wohl mehrere Gründe. Fragen zu stellen bedeutet, dass wir etwas über uns preisgeben. Der Verdacht, aus Unwissenheit zu fragen, hält viele vom Fragen ab. Fragen geben über unsere innere Haltung Auskunft. Ist jemand ungeduldig, besorgt oder wertschätzend? Etwas wissen zu wollen und immer weiter zu hinterfragen, ist nicht immer willkommen. Viele fühlen sich durch Fragen verunsichert, zuweilen sogar persönlich angegriffen. Fragen zweifeln gefestigte Standpunkte an und erkennen Routinen nicht an. Fragen können als Kritik empfunden werden und Streit auslösen. In jedem Fall stören Fragen die Ruhe und Harmonie. Sie können anstrengend sein. Antworten übrigens auch, wenn wir mit Fakten oder Meinungen konfrontiert werden, die unser Weltbild ins Wanken bringen. Wagen Sie es dennoch, viel häufiger zu fragen, Ihr Mut wird sich auszahlen! Wer richtig fragt, gewinnt im Grunde immer: neue Informationen, neue Perspektiven und neue Beziehungen.

 © Antje Hinz, MassivKreativ

Neugierde und Ideen wecken

Fragen bringen Ideen und Veränderung. Sie stiften zum Nachdenken an – über Gegebenheiten und Themen, über die man bislang noch nie nachgedacht  hat. Das Städel-Museum in Frankfurt eröffnet seinen Webkurs Kunstgeschichte Online / Welcome to Art History Online daher bewusst mit Fragen, die der Schauspieler Sebastian Blomberg der Online-Community herausfordernd stellt:

  • Was verbirgt sich hinter diesem Chaos?
  • Bin ich jetzt Teil des Kunstwerks?
  • Warum stehen die Texte nicht neben, sondern auf dem Bild?
  • Wieso ist es Kunst, wenn jemand ein Kunstwerk abfotografiert?
  • Wovon handelt dieses Bild?
  • Warum soll das jetzt moderne Kunst sein?
  • Darf man Bilder auch kopfüber hängen?
  • Kann eine Plastik inkontinent sein?
  • Ist moderne Kunst nur etwas für Experten?
  • Wie lange verweilt ein Besucher vor einem Kunstwerk?

Was glauben Sie, wie lange ein Besucher vor einem Kunstwerk steht? Statistisch gesehen: 11 Sekunden. Hätten Sie es gewusst? Haben Sie sich diese Frage jemals gestellt? Wie viele Fragen stellen Sie (sich) an einem Tag: eine, fünf oder eher gar keine? Fragen eröffnen einen größeren Horizont als Antworten. Sie schulen indirekt die Kompetenz zum aktiven Zuhören.

 © Stephanie Hofschlaeger, pixelio.de

Von Kindern lernen

Im populären Eröffnungssong der Sesamstraße heißt es: „Der, die, das. Wer, wie, was. Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm. 1000 Tolle Sachen, die gibt es überall zu sehen. Manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen.“ Der Drang, tiefer zu bohren, um mehr zu sehen, besser zu verstehen und Neues zu erkennen, ist naturgemäß in uns verankert, zumindest wenn wir Kinder sind. Warum verlieren dann viele von uns mit zunehmendem Alter das Verlangen zu fragen? Sind Kinder mutiger als Erwachsene? Oder führen negative Erfahrungen dazu, dass wir irgendwann aufhören zu fragen? Manche Menschen möchten sich keine Blöße geben, weil sie glauben, durch Fragen würden sie Wissenslücken oder Unkenntnis demonstrieren. Dabei ist es längst kein Geheimnis mehr: Wer fragt, der führt! … Und wird nicht gegen den eigenen Willen von anderen geführt…. TED-Film: Adora Svitak – Was Erwachsene von Kindern lernen können

Von Frisören lernen

Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen guten Frisör aus? Ist es lediglich der akkurate oder trendige Haarschnitt oder auch das intensives Gespräch? Fähige Frisöre haben in der Regel eine ausgeprägte Fragekompetenz und eine hervorragende Merkfähigkeit. Wo treffen Sie sonst auf einen Menschen, der Ihnen längere Zeit bereitwillig  zuhört und die Namen ihrer Familienmitglieder und Freunde immer parat hat?!

Leerstellen finden

„Eine Frage ist eine Äußerung, mit der der Sprecher oder Schreiber eine Antwort zur Beseitigung einer Wissens- oder Verständnislücke herausfordert“, heißt es bei Wikipedia (Ausnahme: rhetorische Fragen). Eine Frage führt dazu, dass Leerstellen gefüllt werden. Weil es unzählige Leerstellen in unserer Gesellschaft gibt, sollten wir eigentlich unentwegt Fragen stellen, um so den richtigen Antworten bzw. Problemlösungen für Herausforderungen auf die Spur zu kommen. Täglich mindestens 44 Fragen zu stellen, wie bei einer Art Ideen-Fitnesstraining, empfiehlt Martin Gaedt in seinem Buch Rock your Idea. Am Ende stellt er selbst viele Fragen, die Bandbreite reicht von praxisnah, kreativ, provokant bis zu verrückt.

Verbindungen schaffen

Der dänische Kurzfilm All That We Share, eigentlich als Eigenwerbung für den dänischen Fernsehsender TV2 entstanden, wurde deshalb millionenfach geteilt, weil er eine spannende Frage stellt: „Was verbindet Menschen?“ Dem Augenschein nach sind es oft Äußerlichkeiten. Stellt man jedoch qualitative Fragen, entstehen unverhoffte Verbindungen zwischen Menschen, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte: Wer war der Klassenclown? Wer hat vor etwas Angst? Wer ist bisexuell? Mit den richtigen Fragen lassen sich Verbindungen zu Mitmenschen finden, auf die man sonst nie kommen würde. Also – nur Mut: Suchen Sie nach Verbindungen – mit einer gut durchdachten Frage!

Wie wir Informationen aufnehmen

Forscher haben in verschiedenen Studien ermittelt, wie wir Informationen aufnehmen und welche Informationen bei uns „hängenbleiben“. Je nach Lerntyp (visuell, auditiv, haptisch-taktil, olfaktorisch) variieren die Prozentzahlen: 90% beim Anwenden (Theorie & Praxis = Können), 70% beim Erklären (Theorie & Wissen), 50% beim Hören und Sehen, 30% beim Sehen, 20% beim Hören und 10% beim Lesen. 

© Grafik: MassivKreativ

zuhören

Wie viele Dinge im Leben, lässt sich auch die Aufnahme von Informationen trainieren und damit das Zuhören. Wenn Sie demnächst einen Freund oder eine Freundin treffen, probieren Sie doch mal aus, ihrem Gesprächspartner ausschließlich zuzuhören und erst dann selbst zu reden, wenn eine Gegenfrage kommt. „Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.“ (Galileo Galilei).

Fragendiagramm: Information vs. Freiraum, Grafik: MassivKreativ

Wie fragt man richtig?

An langweiligen Interviews merkt man immer wieder, dass das Fragen nicht so ganz einfach ist. Es liegt nämlich nicht unbedingt am befragten Interviewpartner, wenn die Antworten uns nicht vom Hocker reißen. Frag vernünftig und Du hörst Vernünftiges, soll der griechische Dramatiker Euripides gesagt haben. Von der Formulierung der Frage hängt maßgeblich die Qualität der Antwort ab. Erfolgreiche Methoden der Gesprächsführung hat die großartige Vera F. Birkenbihl, Expertin für gehirngerechtes Lernen und Arbeiten, in unzähligen Vorträgen, Workshops und in ihrem Buch Fragetechnik … schnell trainiert vermittelt. 

W-Fragen, Grafik: MassivKreativ

Frage-Typen

Offene Fragen lassen dem Befragten viel Raum für seine Erwiderung, z. B. „Wie kam es dazu, dass Du dieses Rezept entdeckt hast?

Geschlossene Fragen fordern kurze, eindeutige Antworten, z. B. „Bist Du satt?“  ja / nein

Alternativfragen geben die Antworten schon vor, z. B. „Möchtest Du lieber Kuchen oder Schokolade essen?“

Suggestive Fragen geben die vermeintlich richtige Antwort in der Frage vor, z. B: „Meinst Du wirklich, dass ich die süße Marmelade noch mehr zuckern soll?“

Rhetorische Fragen erwarten keine Antwort, z. B. „Muss mir das schmecken?“

Offene Fragen bieten den größten Erkenntnisgewinn, weil sie dem Befragten viel Raum zum Antworten geben. Offenheit fördert die Kommunikation. Geschlossene Fragen schaffen Fakten und klare Verhältnisse. Es kommt immer darauf an, was Sie in Erfahrung bringen wollen. In der journalistischen Praxis haben sich für die klassische Nachricht die sechs bzw. sieben W-Fragen durchgesetzt – in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit: Wer? Was? Wann? Wo? Wie? Warum? Welche Quelle? Auch das PAKKO-Schema kann Ihilfreich sein, fragen Sie: persönlich, aktivierend, kurz, konkret und offen.

Systemische Fragen sind im Umfeld von Coaching und Beratung verbreitet, aber auch zielführend, wenn Innovatives geplant und in die Zukunft geblickt wird. Systemische (oder zirkuläre) Fragen sollen dabei helfen, sich in andere Menschen und Positionen hineinzuversetzen, eine andere Sichtweise einzunehmen: Wie würde sich Ihr Gegenüber oder Person XY fühlen? Was wäre wenn…? Stellen Sie sich vor… usw.

Fragentrichter, Grafik: MassivKreativ

Nachhaken mit starker Wirkung

Die meisten Menschen können sehr genau sagen, was sie nicht wollen. Um ein Gespräch in konstruktive Bahnen zu lenken, entstehen überraschend positive Wendungen, wenn Sie nachhaken, z. B. mit diesen kurzen Einwort- bzw. Zweiwort-Fragen:

Sondern? Welchen Vorschlag würden Sie machen? Wie würden Sie das Problem lösen?

Warum? Wozu? Warum haben Sie so entschieden und nicht anders? Wozu könnte dieser Vorschlag dienen? Was könnte er bewirken?

Was noch? Was fällt Ihnen dazu noch ein? Welche Ideen haben Sie noch?  Gibt es noch etwas, was Sie erwähnen bzw. tun möchten?

Fragen sind Brücken zwischen uns Menschen. Deshalb kann eine lebendige Kultur mit klugem Fragen, Nachhaken und aktivem Zuhören in unserem Leben vieles positiv verändern. Probieren Sie es aus!

 © Bernd Sterzl, pixelio.de

So können Sie selbst eine Kultur des Fragens fördern:

Wie können wir uns die Neugierde und den Mut zum Fragenstellen erhalten oder wieder zurück erobern? Wie so oft: durch vielfältige Erfahrungen:

  • Gehen Sie mit offenen Augen durch die Welt und suchen Sie bewusst nach Irritationen: warum ist das so? Könnte das nicht auch anders sein? Könnte man es auch anders machen? Auf welche Weise könnte man das anders machen? Wer könnte daran mitwirken? Könnte ich selbst daran mitwirken, mit welchen Mitteln? Und was könnte sich dadurch verändern? Und plötzlich eröffnen sich in Ihrem Leben völlig neue Perspektiven …
  • Treffen Sie möglichst oft andere und neue Menschen, die Ihnen neue Impulse geben können. Fragen Sie ihnen Löcher in den Bauch und zwar so lange, bis sie wirklich eine befriedigende Antwort erhalten haben. Antworten Sie ehrlich, wenn jemand zurückfragt.
  • Suchen Sie neue Orte auf, an denen Sie vorher noch nie waren und lassen Sie sich dort inspirieren, Fragen zu stellen, wenn Sie etwas nicht verstehen! z. B. Unperfekthaus Essen, Open Innovation Space Berlin, Combinat 56 München, WarnowValley Rostock, Kabinettstückchen Chemnitz, DigiLab – Brennerei Bremen, die Shakespeare Company Bremen, für maritime Fans: Seminar-Haus-Boot-Raum-Schiff und Speicher am Kaufhauskanal in Harburg, Hanseatische Materialverwaltung und DesignXport Hamburg u.v.a.m.
  • Gehen Sie an kreative Orte, ins Theater, besuchen Sie Ausstellungen und Museen und tauschen Sie sich über Ihre Erlebnisse, Eindrücke und Empfindungen aus. Fragen Sie nach, auch wenn es nicht auf alles eine Antwort gibt? Kunst fordert Irritation heraus, muss aber nicht immer eine Antwort geben.
  • Kooperieren Sie mit Künstlern und Kreativen. Bilden Sie Jobtandems, begleiten Sie sich gegenseitig in Ihrem Arbeitsalltag. Stellen Sie sich gegenseitig Fragen über Strukturen, Strategien, Wissenstransfer, tauschen Sie sich aus über neue Ideen und wertvolle Kontakte. Regionale Kreativvnetzwerke helfen Ihnen, geeignete Partner für den Austausch und den Blick über den Tellerrand zu finden.
  • Spielen Sie mit Kindern! Beobachten Sie, auf welche Weise Kinder Herausforderungen meistern! Fragen Sie Kinder, was ihnen wichtig ist. Hören Sie ihnen zu und haken Sie ggf. nach, wenn sie etwas nicht verstehen. Der Dramatiker und Dramatiker und Oscar-Preisträger George B. Shaw sagte einmal: „Wir hören nicht auf zu spielen, weil wir alt werden. Vielmehr werden wir alt, weil wir zu spielen aufhören.“

Fragen bleiben jung, Antworten altern rasch.“

KURT MARTI

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