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Wortakrobat und Ideenstifter: der Autor Nils Mohl und die Jenfeld-Galerie

Nils Mohl ist Jenfelder aus Überzeugung. Der Schriftsteller und Drehbuchautor ist in diesem Stadtteil im Hamburger Osten aufgewachsen. Er lebt bis heute in Jenfeld, obwohl die Medien häufig über diesen Ort im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung, Armut und Gewalt berichten. Nils Mohl will das ändern und eine andere Wahrnehmung des Stadtteils erreichen. Was er gemeinsam mit dem Jenfeld-Haus auf den Weg bringen will, hat er mir im Interview berichtet.

PODCAST-Interview mit Nils Mohl

Wahrnehmung

Nils Mohl bewegt sich mit geschärften Sinnen durch die Welt: aufmerksam hinsehen, genau hinhören, empfindsam hineinfühlen, scheinbar Alltägliches hinterfragen. Wenn Nils Mohl diese besonderen Fähigkeiten aus seinem Werkzeugkasten holt, entstehen überraschende Dinge. Sie eröffnen einen anderen, oft frischen Blick auf die Welt. In seinen Gedichten zeigt er, dass die Welt auch ganz anders sein kann, als sie scheint. Ein Haiku ist ein japanisches Gedicht, das einer strengen Struktur mit drei Zeilen und je 5-7-5-Silben folgt. Bei genauerem Hinsehen verbirgt es aber auch zwei Tiere: Hai und Kuh. Nils Mohl zaubert sie hervor.

 © Nils Mohl_Haiku

Schubkraft

Nils Mohl macht Verborgenes sichtbar und Alltägliches besonders – sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Romanen. Die Held*innen seiner Bücher sind meist jugendlich, stehen an ersten Wegweisern des Lebens, schwanken voller Fragen und sind zugleich beflügelt von starken Gefühlen, von Jugendträumen und erster Liebe. Diese Mischung wirkt als Treibstoff: für die Held*innen und die Texte von Nils. Sie schäumen und brodeln, packen und erregen, in gedruckter Form und adaptiert für die Leinwand. Für zwei Kinofilme hat Nils Mohl die Drehbücher verfasst: „Es war einmal Indianerland“ und „Es gilt das gesprochene Wort“, das den Deutschen Filmpreis in Bronze erhielt.

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Ränder

Nils Mohl eröffnet Themen, die viele von uns aus eigener Erfahrung irgendwie kennen, die aber auch in fremde Welten führen, in Welten am Rand, die normalerweise nicht im Fokus stehen. Sein Roman Es war einmal Indianerland, 2012 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, spielt in einer Hochhaussiedlung in einem schwierigen sozialen Umfeld. Der junge Protagonist spürt innere Zerrissenheit: eine belastende Vergangenheit mit Gewalt, aber zugleich auch Auswege, Liebe, Zukunftsperspektive.

Brückenbauer

Auf seinem Roadtrip lernt der junge Held Entscheidungen zu fällen, wie wir alle sie immer wieder im Leben zu treffen haben. Nils Mohl macht die Figuren und Themen auch für jene Leser:innen und Zuschauer:innen nahbar, die sich in anderen sozialen Milieus bewegen. Er selbst ist in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, doch aus seiner schreibpädagogischen Arbeit kennt auch andere Lebensrealitäten, Kinder und Jugendliche, die auf sich allein gestellt sind mit weitaus härteren Startbedingungen, als er sie selbst hatte. Nils Mohl ist ein Brückenbauer. Mit der Kraft der Worte und der Imagination verbindet er Welten und zaubert uns Bilder in den Kopf, die uns zeigen, dass die Welt auch anders aussehen kann, wenn wir es nur wollen.

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Status Quo

Als die Welt durch Corona still steht, ist die Zeit reif, aus fiktiven Welten auszubrechen. Bei längeren Streifzügen durch Jenfeld werden Fragen drängender, die Nils Mohl im echten Lebensumfeld schon lange bewegen. In Olaf Schweppe-Rother, dem Leiter des Bürgerhauses und Community-Treffpunktes Jenfeld-Haus, findet er einen Gleichgesinnten, der für seine Fragen offen ist: Warum ist Jenfeld so wie es ist? Ist es hier wirklich nur so, wie es medial dargestellt wird? Warum greifen Medien immer nur die Schreckensszenarien auf? Warum wird nicht über „gute Nachrichten“ aus Jenfeld berichtet? Was könnten gute Nachrichten sein? Beide tauschen sich über die öffentliche Wahrnehmung des Stadtteils aus und über den Status Quo.

Benachteiligung

Nils Mohl erinnert sich an die gemeinsamen Überlegungen: „Wir fragten uns: Was also müsste geschehen, damit Jenfeld ein attraktiver Stadtteil wird? Ist das überhaupt möglich? Und wie könnte das gehen?“ Nils Mohl entdeckt Parallelen zu Wilhelmsburg auf der Elbinsel im Süden von Hamburg. Durch die Elbe vom Stadtkern abgeschnitten lasteten auch diesem Quartier lange nur einseitige Bilder an: hoher Migrationshintergrund, Armut, Bildungsferne, viel Kriminalität. Doch dann veränderte sich etwas, Wilhelmsburg wurde durch verschiedene Projekte aufgewertet. Als Hommage an Wilhelmsburg dreht Regisseur Fatih Akin 2009 seinen preisgekrönten Film „Soul Kitchen“ in der von Einsturz bedrohten Fabrikhalle, die zum Partymekka wurde und trotz Schließung bis heute ein wichtiger Identifikationsort im Stadtteil ist.

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Wandel

2013 finden auf der Elbinsel die Internationale Bauausstellung und Gartenschau igs statt. Zehntausende besuchen das Wilhelmsburger Quartier, viele Hamburger*innen zum ersten Mal, staunen über die attraktive wasserreiche Umgebung und die quirligen Bewohner*innen. Auch sportliche Aktivitäten wandeln den Blick. Seit 2005 können sich Kinder in Wilhelmsburg beim Basketball erproben, betreut von professionellen Trainern. Eine Profimannschaft wird aufgebaut, die Hamburg Towers, die 2019/2020 den Sprung in die Bundesliga schafft. Turniere und Punktspiele bringen gegnerische Mannschaften in den Stadtteil und mit ihnen Betreuer*innen, Freunde, Eltern und Verwandte. Nils Mohl kommt durch seinen Basketball-spielenden Sohn nach Wilhelmsburg und beobachtet an sich selbst, wie grundlegend sich die Wahrnehmung für ein Quartiers wandeln kann.

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New York

Ähnliche Erfahrungen wiederholen sich bei einer Reise nach New York. Nils Mohl fährt zufällig mit dem Fahrrad durch den Stadtteil Bushwick im Norden des Stadtbezirks Brooklyn und ist fasziniert von dessen Buntheit und Weltoffenheit: „Künstlerateliers und hunderte von Graffiti-Wandbildern in den Straßen haben aus dem ehemals verarmten, trostlosen und kriminellen Ort ein cooles und angesagtes Szenequartier gemacht. Heute lockt es tausende Besucher an und ist längst kein Geheimtipp mehr. Die Graffiti-Kunst hat dem Stadtteil zu einem enormen Ansehen verholfen.“ Lassen sich solche Erfahrungen mit nach Hamburg nehmen und übertragen?

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Transfer

Nils Mohl erinnert sich: „Ich habe überlegt: Okay, wir haben in Jenfeld nicht viel, aber wir haben Hauswände. Und die können wir doch zur Verfügung stellen. Wir bringen Kunst drauf und dann entsteht ein toller Effekt, wenn man da durchgeht wie in Bushwick.“ Die wenigsten Bewohner*innen würden dort wohl ein echtes Museum besuchen, so Nils Mohl, aber „jetzt müssen sie das auch gar nicht mehr, weil die Kunst zu ihnen gekommen ist. Wie ich finde, auf beeindruckende Weise“. Inzwischen gibt es in Bushwick geführte Stadttouren, neu entstandene Cafés und jedes Jahr ein Fest, bei dem neue Wände besprüht und bemalt werden. Und das zieht dann wieder neue Besucher*innen an. „Diese Dinge fand ich so sympathisch, dass ich Olaf Schweppe-Rother vom Jenfeld-Haus davon erzählt habe. Und wir fanden beide, dass das eine Sache ist, die Jenfeld mit New York verbindet. Und so kam uns die Idee, dass wir hier auch so eine Galerie entstehen lassen können.“

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Selbstwertgefühl

Kreativität heißt: vorhandene Dinge und Erfahrungen neu zu verbinden. Nils Mohl trifft bei Olaf Schweppe-Rother auf offene Ohren. Er greift die Projektidee auf und treibt sie nun unter dem Namen Jenfeld-Galerie weiter voran, gemeinsam mit Partner*innen. Das Konzept: Eine Fotografin (Monika Wolff) portraitiert Menschen aus dem Stadtteil, ein bekannter Graffiti-Künstler (Gerrit Fischer alias Brozilla) stilisiert sie zu Collagen und überträgt die Entwürfe auf die große Leinwand, direkt am Jenfeld-Haus. Die Mission: ein Open-Air- bzw. Freiluft-Museum zu schaffen, das zu den Menschen kommt. Schweppe: „Zunächst einmal zu den Bewohner*innen in Jenfeld. Die Graffiti-Wandbilder sollen ihnen das Gefühl geben, dass sie und ihr Stadtteil etwas ganz Besonderes sind.“

Kollaboration

Wenn dann auch die ersten neugierigen Gäste nach Jenfeld kommen und den Stadtteil besser kennenlernen wollen, werden Außenwahrnehmung, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein der Bewohner*innen in Jenfeld wachsen. Dies dürfte auch im Sinne der Kooperationspartner*innen sein, die Olaf Schweppe-Rother im Stadtteil für das Vorhaben „Jenfeld-Galerie“ gewinnen konnte: als Förderer die Freie und Hansestadt Hamburg bzw. das Bezirksamt Wandsbek im Rahmen von RISE, dem Rahmenprogramm Integrierte Stadtteil-Entwicklung (kurz RISE), sowie als Partner im Stadtteil die Quadriga gGmbH, die aus der Gemeinwesenarbeit der Vereine „Pack an“ bzw. dem Stadtteilbüro Jenfeld, der Kulturinitiative Jenfeld und dem Jugendzentrum Jenfeld entstanden ist. Das gemeinsame Ziel: Stadtentwicklung, Jugend-, Kultur- und Sozialpolitik zu bündeln.

 © leere Wand bei Projektbeginn, Jenfeld-Haus

Teilhabe

Olaf Schweppe-Rother sagt: „Gute und gelingende Projekte entstehen heute in Netzwerken.“ Die „Jenfeld-Galerie“ passt hervorragend in das RISE-Programm, mit dem der Hamburger Senat den Zusammenhalt in der Stadt stärken und die Lebensqualität in den Quartieren verbessern will, auch in Jenfeld. Nils Mohl erklärt das Potenzial der Jenfeld-Galerie für die Mission von RISE: „Veränderungen sollen zusammen und im Dialog mit den Bürger*innen initiiert werden. Die Jenfeld-Galerie kann einen Impuls geben. Das ist der Vorteil von visueller Kunst, dass sie allen zugänglich ist, unabhängig davon, welcher Sprache man mächtig ist. Es gibt eine Menge Nationalitäten hier in Jenfeld. Es wäre schön, wenn durch diese Bildersprache etwas entsteht, das nicht übersehbar ist und jeder versteht. Das ist der Vorteil bei diesen großen Wandgemälden, mit Hilfe von Graffiti eine Metapher dafür zu finden, dass alle zusammen dem Stadtteil ein eigenes Gesicht geben, dass also jeder, der hier in diesem Stadtteil lebt, Anteil daran hat, auch daran, wie der Stadtteil nach außen wahrgenommen wird.“

© Die Projektbeteiligten (v.l.n.r.): Nils Mohl – Ideenstifter der Jenfeld-Galerie, Monika Wolff – Fotografin, Gerrit Fischer alias BROZILLA – Graffiti-Künstler, Olaf Schweppe-Rother – Geschäftsführer Jenfeld-Haus, Antje Hinz & Björn Kempcke – Journalisten, Podcast-/Filmproduzenten, Catharina Behrens – PR & Ö, Assistenz der Geschäftsführung Jenfeld-Haus.

Strahlkraft

Nils Mohl hofft, dass das Vorhaben Kreise ziehen wird, dass nach der Fertigstellung des Auftaktwandbildes am Jenfeld-Haus im Sommer 2022? / im Herbst 2022? weitere Hauswände freigegeben werden, damit die Jenfeld-Galerie weiter in den Stadtteil hineinwachsen kann. Das würde Strahlkraft nach außen tragen und positiv auf den Stadtteil zurückwerfen. Was auch immer passiert, der erste Impuls ist schon jetzt gesetzt, meint Nils Mohl: „Ich finde es ganz toll, was wir allein schon durch die Gespräche voneinander und miteinander gelernt haben. Ich hoffe, dass im Laufe der Zeit immer mehr Menschen dazu kommen und Lust darauf haben, diese Sache zu unterstützen.“

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Die Jenfeld-Galerie ist eine Initiative vom JENFELD-HAUS und Partner:innen und wird gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg – Bezirksamt Wandsbek, Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE).

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NiLS MoHL lebt als freier Schriftsteller und Drehbuchautor in seiner Heimatstadt Hamburg im Stadtteil Jenfeld. Zuletzt erschienen bei Rowohlt die Romane „Es war einmal Indianerland“, „Stadtrandritter“, „Mogel“ und „Zeit für Astronauten“. Bei mixtvision die Gedichtbände könig der kinder und tänze der untertanen und bei Tyrolia An die, die wir nicht werden wollen. Alle Bücher handeln vom Jungsein und Erwachsenwerden. An zwei Kinofilmen ist er als Drehbuchautor beteiligt gewesen: „Es war einmal Indianerland“ und „Es gilt das gesprochene Wort“ (Deutscher Filmpreis in Bronze). Seit 2020 veröffentlicht Nils Mohl jeden Montag ein Gedicht auf Instagram.

Gern gibt Nils Mohl sein Wissen über das Erzählen und Schreiben weiter. Als Dozent hat er u. a. an der Uni Hamburg, für die Textmanufaktur, das Deutsche Theater Berlin, am Hamburger Schauspielhaus und am Hamburger Literaturhaus Seminare, Workshops und Kurse geleitet. Außerdem berät er Autorinnen und Autoren als Coach und Dramaturg.

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